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Die Kolumne des Dresdner Stadtschreibers: Abstecher zum Immenheim

Sommer in Papstdorf hieß einst nicht nur anstrengende Liebe, sondern auch Hineinkriechen in leere Milchtanks und seinen Namen ins Gipfelbuch schreiben.

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Der Leipziger Schriftsteller Carl-Christian Elze
	arbeitet bis Ende des Jahres mit einem Stadtschreiber-
	Stipendium in Dresden.
Der Leipziger Schriftsteller Carl-Christian Elze arbeitet bis Ende des Jahres mit einem Stadtschreiber- Stipendium in Dresden. © kairospress

Von Carl-Christian Elze

Ich hatte lange nicht an Papstdorf gedacht und noch länger war ich nicht dort gewesen, bestimmt 30 Jahre. Ein kleiner unscheinbarer Ort, schön gelegen, direkt am Papststein in der Sächsischen Schweiz. In diesem Dorf wurden 1969 meine Eltern von Pfarrer Willi Mestars getraut und ebendort bin ich, soweit ich mich erinnere, ziemlich spontan getauft worden. Aber für mich noch wichtiger, in Papstdorf habe ich einige der glücklichsten Stunden meiner Kindheit verlebt, im sogenannten „Immenheim“.

Genau um dieses Immenheim schlich ich vor wenigen Wochen mit meinem kleinen Sohn herum, es war inzwischen in Privatbesitz und nicht mehr frei zugänglich. Während es für meinen vierjährigen Sohn schnell langweilig wurde und er zu nörgeln anfing, explodierte mir fast der Schädel. So viele klare Erinnerungen. Meist waren mein Bruder und ich zusammen mit meinem Vater im Immenheim, gewöhnlich für eine Woche. Frau Barthels hieß die gute Seele des Hauses, die Chefin der Pension. Für DDR-Zeiten ungewöhnlich wurde das Immenheim privat betrieben. Es gab viele Stammgäste, sodass jeder Besuch in Papstdorf allmählich zu einer Art Familientreffen wurde. Meine Freundin Gabi und ihre Mutter waren immer mit dabei.

Sticheleien, Schaukämpfe und Mutproben

Einmal erschien ein neues Mädchen, in das ich mich sofort verliebte. Sie war wunderschön und hieß Sigrid. Sie hatte blonde, geflochtene Zöpfe und roch gut. Wir waren beide etwa sieben Jahre alt. Dummerweise gab es noch einen anderen Jungen, der sich ebenso schnell in Sigrid verliebt hatte. Es entspann sich ein einwöchiger, kräftezehrender Kampf um Sigrids Gunst. Sigrid machte uns beiden gleichermaßen Hoffnung, was zu immer neuen Sticheleien, Schaukämpfen und Mutproben führte. Sie war unser Burgfräulein und wir waren ihre sommerlichen Ritter. Ich war noch Monate später in Sigrid verliebt, doch es war aussichtslos, sie kam nie wieder ins Immenheim zurück.

Aber Sommer in Papstdorf hieß zum Glück nicht nur anstrengende Liebe, sondern auch stundenlanges Tischtennisspielen nach dem Abendbrot, hieß Wandern auf den Papst- und den Pfaffenstein, hieß Springen über gefährliche Felsspalten, hieß Hineinkriechen in leere Milchtanks wie in U-Boote, die neben den Feldwegen standen, hieß Wiesenchampignons sammeln und schließlich einen Felsenturm finden, den man auch ohne Seil erklimmen konnte, hieß unglaublich stolz zu sein, es endlich geschafft zu haben, den eigenen Namen mit Bleistift geschrieben in einem metallumhüllten Gipfelbuch zu sehen. Mir ist sogar noch der Name des Felsens in Erinnerung geblieben: „Räuberhöhlenturm“.

Erinnerungen wurden zu einem Klumpen im Gehirn

Und was war im Winter? Im Winter fuhr ich mit kleinen, blauen Holzskiern den dick verschneiten Hang neben dem Immenheim hinunter. Wer Mut hatte, stiefelte bis ganz nach oben zur Friedhofsmauer und nahm die Spur über die selbst gebaute Schanze und sprang – sprang immer weiter. Einmal fuhr ich einen anderen, noch steileren Hang mit Gabis Mutter auf dem Schlitten hinunter und ihr wurde bei einer Bodenwelle eine Bandscheibe gequetscht. Sie begann zu weinen und es tat mir schrecklich leid, ich fühlte mich schuldig…

Die Erinnerungen an Papstdorf wurden zu immer größeren Klumpen in meinem Gehirn. Mein Sohn nörgelte und wollte zurück zur Ferienwohnung, aber ich stand wie festgewurzelt vor einem eher kleinen, jetzt baufälligen Haus. Wie hatten nur all diese vielen Kinder und Eltern in diese kleine Pension hineingepasst?

Ich ging mit meinem Sohn den Hohlweg zur Kirche hinauf und setzte mich auf eine Bank an der Turmseite. Mein Blick ging zum Falkenstein und den vielen gezackten Spitzen der Schrammsteine rechts daneben. Schließlich stand ich wieder auf, um zur Friedhofsmauer zu gehen. Ohne danach gesucht zu haben, las ich auf einem der Grabsteine den Namen Willi Mestars. Pfarrer Mestars war 95 Jahre alt geworden. Ich habe ihn als großen und dünnen, wirklich imposanten Mann in Erinnerung, damals schon weißhaarig. Wie eine Gestalt aus der Bibel, wie Gott selbst, dachte ich als Kind.
Wieder zu Hause in Leipzig, kramte ich meine Taufurkunde hervor. Ich wurde am 1.3.1980 von Pfarrer Mestars getauft, er hatte unterschrieben. Wahrscheinlich hatte er auch den Tauftext ausgesucht. „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jesaja 43,1) Ich konnte es nicht fassen: Als ob mir Willi Mestars schon als Kind in die Seele geschaut hatte, einem eher ängstlichen Kind, und versucht hatte, mich für immer zu beruhigen.