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Dresdens Stadtschreiber entdeckt die Alten Meister neu

Das Betrachten eines Gemäldes ist wie ein Spaziergang: Man muss direkt vor einem Bild stehen, um wirklich zu erfahren, was es mit einem macht. Eine Kolumne von Carl-Christian Elze.

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Carl-Christian Elze ist derzeit Dresdens Stadtschreiber.
Carl-Christian Elze ist derzeit Dresdens Stadtschreiber. © kairospress

Von Carl-Christian Elze

Im Jahr 2016 verbrachte ich mehrere Monate als Stipendiat in Venedig. Nie zuvor hatte ich so eng, so intensiv mit Gemälden zusammengelebt. Das hatte weniger mit den reich gefüllten Museen der Stadt zu tun als vielmehr mit ihren Kirchen. Mein wirkliches Zusammenleben mit Gemälden begann damit, dass ich auf meinen Streifzügen durchs Labyrinth immer häufiger Lust verspürte, noch schnell in diese oder jene Kirche einzukehren, nur um für wenige Minuten ein bestimmtes, mir inzwischen vertrautes Bild zu betrachten.

Ich brauchte nicht mehr ein Museumsgebäude zu betreten, um dort in einer Art Überdosis stundenlang Hunderte Gemälde anzuschauen (oder eher nicht anzuschauen), sondern ich blieb einfach im Freien und bewegte mich in einem riesigen Freiluftmuseum, das mir seine Gemälde nicht aufdrängte, sondern sie mir nur dann zeigte, wenn mein Kopf sie herbeisehnte – dann waren sie plötzlich da. Das Betrachten eines Gemäldes war wie ein Spaziergang geworden, es geschah wie nebenbei, und ein Spaziergang war wie ein Gemälde geworden, er drang tiefer in den Körper ein.

Als ich vor einigen Wochen die Galerien Alte und Neue Meister besuchte, merkte ich, wie unverändert stark mein Gehirn auf Gemälde reagiert, mehr als auf Musik. Aber auch mein altes Museumsproblem war wieder da: Ich konnte nicht aufhören zu schauen. Ich blieb stundenlang, ließ mich überfluten. Bis mir bewusst wurde: Ich habe doch einen Jahresausweis, ich kann jeden Tag hier sein, jederzeit, auch nur für 10 Minuten, ich habe die Möglichkeit, wie in Venedig mit einigen Bildern Freundschaften zu entwickeln. Als mir dieser Gedanke in der Galerie Neue Meister kam, folgte gleich ein zweiter. Warum fragte ich nicht zunächst diejenigen nach ihren Freundschaften, die die meiste Zeit ihres Lebens mit Bildern zusammenlebten? Warum fragte ich nicht die Museumsaufseher?

Mein erster Gesprächspartner war ein junger Mann mit bläulichen Haaren. Er führte mich zu einem Bild, dessen Tiefe und Detailreichtum er bewunderte. Es hieß „Waldeinsamkeit“ von Eduard Leonhardi. Ein großformatiges Gemälde, in dessen Gebirgswald man scheinbar hineinlaufen, hineinwaten konnte, denn am unteren Bildrand beginnt ein Bach, rechts und links davon abgestürzte Felsen. Ob ich den Vogel sehen würde, fragte er mich. Ich suchte eine Weile. Ob er mir helfen solle? Ich schüttelte den Kopf, und endlich sah ich ihn: einen präzise gemalten, winzigen Eichelhäher in einer dicht beblätterten Waldwelt. Tiefe, Detailreichtum, bläuliche Flügel. Ein Bild, um darin im Kopf herumzuklettern, dem Wasser zu folgen, dachte ich.

Ein zweiter, älterer Museumsaufseher lud mich ein, mit ihm zu Caspar David Friedrichs „Der Friedhof“ zu gehen. Ich hatte das Bild schon vorher betrachtet, aber den entscheidenden Vorgang nicht bemerkt. Der Mann zeigte ihn mir. Nur wenn man sehr aufmerksam und sehr nah, alarmanlagenauslösend nah, vor dem Bild steht, kann man gerade noch die Seele eines verstorbenen Kindes erkennen, die nachts aus dem frischen Grab emporsteigt zu einem Engel, der seine Arme weit öffnet. Man steht mit den Eltern zusammen am Friedhofseingang, es zerreißt einen und gleichzeitig blickt man seltsam getröstet in die Ewigkeit. Seele und Engel sind nur hauchzarte weiße Linien, wie aus Glas, fast unsichtbar. Nach all den Tausenden dickfleischigen Engeln, die ich schon auf Bildern gesehen habe, war dieser Friedrich-Engel wie eine Erlösung für mich.

Venedig verändert die eigene Wahrnehmung. In keiner anderen Stadt hat man anhaltender das Gefühl, in einer Art Traumzustand zu wandeln, der das ganze Leben ist. Ein Zustand, in den man auch manchmal in Dresden hineingeraten kann, wenn man sich nachts über den spiegelnden Fluss der Altstadt nähert, menschenleer. Vielleicht ein Grund, warum mich eine der Museumsaufseherinnen zu dem Bild „Blick auf Dresden bei Vollmondschein“ von Johan Christian Dahl führte. Ihr Lieblingsbild. Eine mond- und wolken- und kirchenspiegelnde Elbe. Eine detailgenaue nächtliche Szenerie und gleichzeitig oder vor allem eine Seelenlandschaft.

Dann allein zurück im Friedrich-Raum. „Das große Gehege“. Wahrscheinlich mein Seelenbild für die nächsten Monate. Alle noch so guten Reproduktionen bewirken nichts. Man muss direkt davor stehen, um wirklich zu erfahren, was das Licht in diesem Bild mit einem macht. Ein großer Lichtgedanke, wie Alfred Lichtwark schon 1911 bemerkte. Man beginnt als Betrachter zu schweben. Zwischen Abendhimmel und Abenderde. Noch eine Umarmung. Diesmal im elbischen Schwemmland.