SZ + Feuilleton
Merken

Dresdner Kreuzchor hat einen neuen Kantor

Martin Lehmann wird im September das Amt als Kreuzkantor antreten. Damit er den Chor nach Corona neu aufbauen kann, erhält er einen ungewöhnlichen Vertrag.

Von Bernd Klempnow
 4 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Der designierte Kreuzkantor Martin Lehmann unterzeichnet im Festsaal des Rathauses seinen Dienstvertrag mit Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert.
Der designierte Kreuzkantor Martin Lehmann unterzeichnet im Festsaal des Rathauses seinen Dienstvertrag mit Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert. © www.loesel-photographie.de

Zeugen berichteten: „Die Kruzianer waren abends platt, aber total begeistert.“ Eine Woche ging das so im Frühjahr 2021, als Martin Lehmann mit dem Dresdner Kreuzchor eine Vesper und ein Stück von Johannes Brahms’ Requiem vorzubereiten hatte. Lehmann war einer von drei Kandidaten, die von 34 Bewerbern und drei Bewerberinnen zu Proben mit dem Chor eingeladen worden waren. Am Ende hätten alle an dem Auswahlverfahren für den neuen Kreuzkantor Beteiligten unisono für Lehmann gestimmt.

Am Donnerstag unterschrieben der 48-Jährige und Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert den entsprechenden Dienstvertrag. Martin Lehmann wird am 1. September das Amt als 29. Kreuzkantor antreten. Er löst Roderich Kreile ab, der planmäßig nach 25 Jahren in den Ruhestand geht. „Wir sorgen dafür, dass dieser Chor einen optimalen Wechsel des Kreuzkantors erlebt“, so Hilbert.

Aktuell hat der Kreuzchor 140 Mitglieder.
Aktuell hat der Kreuzchor 140 Mitglieder. © Matthias Weber

Empathie für die heranwachsenden Sänger

Rückwirkend zum 1. Januar erhält der Neue einen halbjährigen Vorbereitungsvertrag, um das Schuljahr und die Konzertsaison 2022/23 mit vorzubereiten. Er hoffe, nach und nach das Team und den Chor kennenzulernen“, so Lehmann: „Ich werde hospitieren, will zuhören. In die Arbeit von Roderich Kreile werde ich mich selbstverständlich nicht einmischen. Es wird schwer genug, den Chor unbeschadet durch die Corona-Zeit zu bringen.“

Tatsächlich ist das hoch kompliziert, weil die Kruzianer nur einzeln oder in kleinen Gruppen üben können. Den Jüngeren von ihnen fehlt wegen der zwei Jahre lang ausgefallenen Aufführungen teilweise die Kenntnis des traditionellen Kreuzchor-Repertoires wie Brahms’ Requiem und Weihnachtsoratorium. „Der Chor muss quasi von Grunde auf neu aufgebaut werden“, so Dresdens Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch, die als Dienstherrin des Chores auch die Vorsitzende der Findungskommission war. Um das zu schaffen, hätte sich die Landeshauptstadt entschieden, dem neuen Kreuzkantor einen unüblichen Vertrag zu geben. „Regulär schließen wir Intendantenverträge nur über fünf Jahre ab. Doch die Aufgabe des Chorleiters nach Corona ist so immens, dass wir eine Mindestlaufzeit von zehn Jahren für angemessen hielten. Martin Lehmann braucht diese Zeit, um die Kruzianer neu zu prägen. In einem können Sie sich sicher sein“, so Klepsch auf SZ-Nachfrage. „Er wird ein Chorleiter vom Format eines mitreißenden und begeisternden Nationalmannschaftstrainers sein.“

Wie er das alles anstellen will, mochte der so Gelobte am Donnerstag noch nicht verraten. „Noch führt Roderich Kreile den Chor ein halbes Jahr.“ Aber er sprach von Demut, Respekt und Freude. Als Vorteil sieht er, dass „ich die Mauern von innen kenne und die Kinderperspektive verinnerlicht habe“. Lehmann war schließlich von 1983 bis 1992 Mitglied des Kreuzchores.

Kreuzkantor Roderich Kreile geht im Sommer nach 25 Jahren im Amt planmäßig in den Ruhestand.
Kreuzkantor Roderich Kreile geht im Sommer nach 25 Jahren im Amt planmäßig in den Ruhestand. © Agentur

Der gebürtige Mecklenburger wuchs in Dresden auf. Nach dem Abitur studierte er an der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden Chordirigieren beim ebenfalls Ex-Kruzianer Hans-Christoph Rademann. Während dieser Zeit war er künstlerischer Assistent des Dresdner Kammerchors sowie Mitbegründer und Leiter des Kammerchors cantamus dresden. Darüber hinaus nahm er einen Lehrauftrag an der Dresdner Musikhochschule wahr. In den Jahren 2001 bis 2011 war er Leiter verschiedener Chöre in Leipzig und Wuppertal. Zahlreiche Wettbewerbserfolge, CDs sowie Fernseh- und Radiomitschnitte dokumentieren seine Arbeit. 2012 übernahm er die Leitung des renommierten Windsbacher Knabenchores. Den wird er bis zu seinem Dresdner Amtsantritt weiterhin führen und unter anderem seine Nachfolge mitregeln.

Nur der Vollständigkeit halber: Lehmann ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Annekatrin Klepsch nannte den neu Gekürten einen der renommiertesten europäischen Chordirigenten, Kirchenmusiker und Pädagogen, der auch Netzwerker und Kulturmanager sei. „Gut, dass wir ihn gewinnen konnten, denn wir befinden uns in einer Konkurrenzsituation mit anderen Knabenchören. Wir sind überzeugt, dass er die Tradition des Kreuzchores als einem der ältesten deutschen Knabenchöre auf künstlerisch exzellentem Niveau und mit der notwendigen Empathie für die heranwachsenden Sänger fortführen wird.“

Gibt es absehbar Kruzianerinnen?

Wo er denn den Chor im 21. Jahrhundert sehe? Es scheint widersprüchlich, meint der Neue. Aber der Chor müsse seine sakralen Wurzeln pflegen und zugleich seine Rolle in einer säkularisierten Stadtgesellschaft immer wieder neu definieren.Und was wird mit Mädchen? Diese werden weiterhin keinen Zugang zum Kreuzchor haben, so Kulturbürgermeisterin Klepsch. „Wir haben viele hervorragende Mädchen- und gemischte Chöre wie den Philharmonischen Kinderchor. Der Kreuzchor ist und bleibt ein Knabenchor.“ Der erste öffentliche Auftritt von Kreuzkantor Martin Lehmann wird am 24. September die Gestaltung einer Vesper sein.