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Zäune fressen Menschen auf: So war die Dresdner Rede von Katja Riemann

In einer bewegenden Dresdner Rede spricht die Schauspielerin Katja Riemann über das Schicksal von Heimatlosen auf der Flucht.

Von Karin Großmann
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Katja Riemann hielt am Sonntagvormittag im Dresdner Schauspielhaus eine bewegende Rede.
Katja Riemann hielt am Sonntagvormittag im Dresdner Schauspielhaus eine bewegende Rede. © Jürgen Lösel

Da ist dieser junge Fliesenleger. Er schloss seine Ausbildung in Schweinfurt ab, fand einen Job, hatte ein gutes Verhältnis zu seinem Chef, hatte Kumpel, eine Freundin. Doch er versäumte es, rechtzeitig die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. So wurde er nachts aus seiner Unterkunft geholt, in Handschellen ins Flugzeug gesetzt und nach Afghanistan abgeschoben. Dort war er noch nie. Er kam als Kind afghanischer Eltern im Iran zur Welt. Jetzt lief er von Kabul über die grüne Grenze zu seiner Mutter. Mit einer kleinen Gruppe lief er weiter über das Gebirge in Richtung Türkei. Schnee bis zum Oberschenkel. Mit dem Boot nach Lesbos. Das Camp Moria war das berüchtigtste aller elenden Flüchtlingslager. Es war noch nicht abgebrannt, als die Schauspielerin Katja Riemann den jungen Mann dort 2019 zum ersten Mal traf. Er nannte sich Mo. Vielleicht, weil schon die anderen Mohammed hießen oder weil er das cool fand oder weil das sein deutscher Spitzname war. „Alles wird anders“, sagt sie, „sobald man jemanden kennenlernt, der oder dem eine Geschichte widerfahren ist, die man sonst nur aus den News kennt.“

Solche Geschichten erzählt Katja Riemann an diesem Sonntagvormittag im Dresdner Schauspielhaus. Sie hält eine bewegende Dresdner Rede. Man spürt ihre Emotionen, ihre Leidenschaft, und leicht kann sie das schräge Deutsch des Fliesenlegers nachahmen. Sie gibt Menschen eine Stimme, die sonst nicht zu hören sind. Eine Schallverstärkerin nennt sie sich. Setzt sich zu den Fremden auf den Boden, lässt sich ein auf Sitten, Kultur, Essgewohnheiten. Falls es etwas zu essen gibt. Einen süßen Tee gibt es meist. Sie schwärmt von „Gastfreundschaftsweltmeistern“. Seit 25 Jahren engagiert sich die Schauspielerin für das Kinderhilfswerk Unicef der Vereinten Nationen. Engagement, sagt sie, beginnt nicht mit dem ersten Schritt. „Es zeigt sich darin, dass man nicht mehr loslässt.“

Reisen an die Schmerzpunkte der Welt

In der Regel reist sie gemeinsam mit einem Team, mit einer Organisation oder einer Redaktion im Rücken. Diesmal aber reiste sie allein, fast drei Jahre lang, immer wieder. „Ich bin an Schmerzpunkte der Welt gefahren.“ Für Schmerzpunkte gibt es keine Touristenführer. Wenn es gut geht, findet man Menschen wie Mo, die zu Verbündeten werden. Katja Riemann trifft professionelle Helfer, die in den Krisen der Welt so etwas wie einen Alltag organisieren. Sie trifft Theaterleute und Filmleute, Lehrer und Übersetzer, die ihr manchen Weg ebnen – in Marokko, an der bosnisch-kroatischen Grenze, im iranischen Lager der Jesiden, bei tibetischen Kindern.

Etwas haben alle Orte gemeinsam, und das beschreibt Katja Riemann auf der Bühne des Schauspielhauses mit großer Eindringlichkeit. Es sind Zäune. „Zäune, die wie große Metallgebisse in der Landschaft stehen und Schönheit und Lebendigkeit verschlingen. Und manchmal die Menschen fressen.“ Sie spricht von metallenen Schlangen und Todesstreifen, bezahlt mit EU-Geldern. Im Jahr 2022 erhielt der marokkanische Staat 140 Millionen Euro für Grenzsicherung. Der EU-Trust-Fund stellte dem Land 5,5 Millionen Euro zur Verfügung für ein Dreijahresprojekt zur Unterstützung Geflüchteter.

Manche Zäune tragen oben schräge Zinken aus dickem Stahl. „Als würden sie darauf warten, etwas oder jemanden aufzuspießen.“ Andere tragen armdick gerollten Nato-Draht. Er ist mit Metallklingen ausgerüstet statt mit Stacheln. Manchmal sind drei Zäune hintereinander aufgebaut. Der Draht ineinander verknäult. „Wer hat sich das ausgedacht?“, fragt Katja Riemann. „Saß da jemand an seinem Zeichentisch und hat den Trippelzaun entworfen und gezeichnet?“ Sie erzählt von einer Fahrt durch den ehemaligen Dschungel von Calais: Kilometerlang zogen sich auf beiden Seiten der Autobahn Zäune hin. Sie standen direkt hinter der Leitplanke, eingemauert wie für die Ewigkeit. Angesichts der Endlosigkeit und Übermacht dieser Abgrenzungen sei ihr klar geworden, wie ihr neues Buch heißen müsse: „Zeit der Zäune“. Es ist soeben im S. Fischer Verlag erschienen und gibt der Dresdner Rede den Titel. Der vorige Band „Jeder hat. Niemand darf“ war in den Corona-Einschränkungen untergegangen. Lesereisen, Talkshowauftritte und Interviews fielen aus. Auch in diesem Buch hatte Katja Riemann von ihren Erfahrungen jenseits der mitteleuropäischen Komfortzone erzählt.

Eine der vielseitigsten Schauspielerinnen

Die 60-Jährige ist keine Schauspielerin, die sich mal eben für Humanität einsetzt – sie lebt diesen Teil ihres Lebens mit Selbstverständlichkeit. Der andere Teil gehört dem Film, dem Theater, der Musik, dem Schreiben – auch bei längerem Nachdenken fällt einem keine Schauspielerin ein, die so vielseitig ist. Katja Riemann gehört zu den Gefragtesten ihrer Zunft. Mit Kassenschlagern wie „Die Apothekerin“, „Fack ju Göhte“ oder „Türkisch für Anfänger“ feierte sie Erfolge. Viele ihrer rund vierzig Filme wurden mit Preisen bedacht. Als Patriarchin eines Familienunternehmens brillierte sie im ARD-Mehrteiler „Unsere wunderbaren Jahre“. Derzeit ist sie in den Kinos im Film „Stella“ zu sehen. Mitte März zeigt das ZDF die Serie „Reset – Wie weit willst du gehen?“. Katja Riemann spielt eine Star-Moderatorin, die durch eine Zeitreise in die Vergangenheit den Suizid ihrer Tochter verhindern will.

Auf der Dresdner Bühne spricht Katja Riemann darüber, wie sehr sie die innere Stärke des Fliesenlegers Mo bewundert, seine seelische Widerstandskraft. „Resilienz und Improvisation wachsen exponentiell zu den Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Es sei denn, man gibt auf.“ Zufällig traf sie Mo später wieder auf Lesbos. Er wolle dort bleiben. Einer aus der großen Zahl jener, die sich aufmachten in der Hoffnung auf ein Leben, das sicherer sein würde und vielleicht ein wenig gerechter. Der größte Teil der 89,3 Millionen Menschen, die weltweit vor Kriegen, Konflikten, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen fliehen müssen, sind Binnenflüchtlinge. Rund zwanzig Prozent, so Riemann, flüchten in Nachbarländer, und nur ein kleiner Prozentsatz sucht einen Weg nach Europa, Amerika oder Australien. Sie begleitet die Geflüchteten mit ihren Fragen: „Wer kam an, wer blieb zurück, wer überlebte, wer starb, wer wurde verschleppt und versklavt, wem wurde der Kopf abgeschlagen oder das Leben zerstört?“

Immer wieder zieht die Rednerin Parallelen in die Geschichte. Die Erfahrung von damals lebe im Trauma von heute fort. Sie erinnert an die mehr als zwölf Millionen Deutschen, die in der Folge des Zweiten Weltkriegs aus den sogenannten Ostgebieten vertrieben wurden. Sie hätten das Wort „Flüchtlingsstrom“ geprägt. „Es waren Deutsche, nicht Syrer.“ Sie erinnert auch an die jüdischen Einwohner Deutschlands, die sich vor der Auslöschung zu retten versuchten, die kreuz und quer über den Kontinent hetzten, um irgendwo in Sicherheit zu sein. Niemand wollte sie haben, sagt Katja Riemann. Sie schildert eine Konferenz am Genfer See, die 1938 eine Quote beschließen sollte. Am Ende hätten die Vertreter aus 30 Ländern bedauernd die Hände gehoben. Allerdings habe noch niemand ahnen können, „welche tödlichen Konsequenzen der ergebnislose Verlauf haben sollte“. Was heute geschieht, sei nicht neu, sagt Katja Riemann. Und: „Flüchtlinge waren lästig, zu allen Zeiten.“

Flüchtlinge waren immer lästig

Um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen, spricht sie mit Fachleuten. Von einer Soziologin lässt sie sich die Entstehung von Gewalt erklären. Gewalttätigkeit sei kein Naturphänomen, sagt die Expertin, Gewalt lasse sich lehren und auch lernen, sie werde Menschen beigebracht. Oder nicht. Katja Riemann nimmt das zum Anlass für ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr und bessere Bildung. „Die Schule sollte der beste Start ins Leben sein!“ Doch im Wust von Lehrplänen, Deadlines, Pisa-Studien und bildungsfernen Gesetzen gehe das Wesentliche oft verloren. Sie sieht Lehrer und Eltern gleichermaßen in der Verantwortung. Es liege in der Hand der Erwachsenen, was aus Teenagern werde: Kindersoldaten oder Klimaaktivisten … Auch in den Flüchtlingscamps sei Schule der Schlüssel für einen Ausweg aus der Misere. Katja Riemann erzählt von einem Jungen, der mit einem Physikbuch in einem Verschlag für die Prüfung lernt. Er erzählt ihr, dass er Arzt werden will. „Sie lernen in Containern, in Bussen, im Stehen und im Liegen und saugen jede Möglichkeit des Wissens auf.“ Sie hoffe nur, sagt die Schauspielerin, dass die Jugendlichen nach dem Studium nicht nach Europa flüchten müssten. Wo ihr Doktortitel nichts wert sei.

Riemanns Sarkasmus ist im Buch noch stärker als in ihrer Rede. Sie findet für den Sonntagvormittag einen versöhnlicheren Ausgang. Der Beifall für ihre Rede ist lang und herzlich, ein Höhepunkt in der an Höhepunkten gewiss nicht armen 32-jährigen Geschichte der Dresdner Reden. Die Reihe wird in Kooperation von Sächsischer Zeitung und Staatsschauspiel Dresden veranstaltet. Am nächsten Sonntag spricht Ex-Tennisprofi Andrea Petkovic.