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E.T.A. Hoffmanns "Sandmann" wird in Dresden zur Stunde der toten Augen

Die Dresdner Inszenierung des Nachtstücks "Sandmann" taumelt im kleinen Haus zwischen Traum, Trauma und Täuschung. Kürzungen wären besser gewesen.

Von Rainer Kasselt
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Jonas Holupirek gibt einen großartigen Einstieg am Dresdner Staatsschauspiel mit seiner Darstellung des Nathanael.
Jonas Holupirek gibt einen großartigen Einstieg am Dresdner Staatsschauspiel mit seiner Darstellung des Nathanael. © Sebastian Hoppe

Der Student Nathanael stirbt den Bühnentod. Dann zündet er sich lässig eine Zigarette an. Und wendet sich ans Publikum: „Was, wenn uns der gesamte Text täuscht?“ Nathanael kehrt zurück in seine Welt zwischen Fiktion und Wirklichkeit. 1816 erschien die legendäre Schauergeschichte „Der Sandmann“ von E. T. A. Hoffmann. Sie inspirierte Offenbach zur Oper „Hoffmanns Erzählungen“ und Léo Delibes zum Ballett „Coppélia“. Die Story wirkt weiter.

Verliebt in eine Automatenfrau

Am Wochenende erreichte sie das ausverkaufte Kleine Haus des Dresdner Staatsschauspiels. Nathanael erinnert sich an das Trauma seiner Kindheit, als ihm „etwas Entsetzliches“ widerfuhr. Er erkannte im vermeintlichen Sandmann den Advokaten Coppelius, der Kinder „kleine Bestien“ nennt und ihnen die Augen raubt. Er trage auch Schuld am Tod seines Vaters, ist der Sohn überzeugt. Nathanaels Verlobte Clara, sein „süßes, liebes Engelsbild“, redet sich den Mund fusselig, um ihn von seinen Wahnvorstellungen abzubringen. Doch er kommt von den Ängsten nicht los.

Vom Händler Coppola alias Coppelius erwirbt er ein magisches Fernrohr. In diesem erblickt er Olimpia, die Tochter seines Uni-Professors Spalanzani. Er verliebt sich auf Anhieb in sie. Was alle Welt ahnt, will der Entflammte nicht wahrhaben: Olimpia ist ein seelenloser Automat, keines Gefühls mächtig. „Wie konntest du dich in das Wachsgesicht, in die Holzpuppe vergaffen“, wundert sich ein Kommilitone.

Coppelius und Spalanzani, die Erfinder der Automatenfrau, streiten über das Recht der ersten Idee. Sie zerren an Olimpia, bis sie auseinanderfällt. Im Zorn erwürgt Nathanael beinahe den Professor und landet in der Psychoklinik. Später klettert er mit Clara auf den Rathausturm, erleidet einen Rückfall und will sich mit ihr in die Tiefe stürzen. Sie wird gerettet, er liegt tot am Boden.

Wie setzen Regisseur Sebastian Klink und Ausstatter Gregor Sturm die Geschichte um? Mit einer aufgepeppten szenischen Lesung. Klink, dessen Arbeit „9 Tage wach“ in guter Erinnerung ist, hält sich weitgehend an Hoffmanns Text. Starke Prosa für Leser. Doch es gibt keine Dialoge, keine dramatischen Zuspitzungen, kein Futter für Mimen. Wie rettet sich das Regieteam aus dieser vertrackten Lage? Mit äußerlichem Pomp, mit Videos, Live-Kamera, Überblendungen und häufigen Perspektivwechseln. Die Schauspieler teilen sich Text und Figuren, Olimpia wird von vier Frauen gespielt. Zuschauer ohne Vorkenntnis werden eine Weile brauchen, ehe sie durchsehen. Die farbigen Streifenmuster an den Bühnenwänden erinnern an Mondrian, die Schnörkel an Matisse. Zwölf Türen und ein gläserner Aufzug sind ständig in Bewegung. In Video-Großaufnahmen wird gelästert, gekichert, gefaucht. Augen weiten sich vor Schreck, spitze Schreie ertönen und gellendes Lachen. Auffällig die Präsenz von Nadja Stübiger.

Gaz ohne Grusel geht die Chose nicht

Jonas Holupirek, neu im Ensemble, meistert den anspruchsvollen Part des Studenten. Er strahlt Furcht, Angstträume, Hochmut, Liebesglück, Wahn und Wut aus, wird zu Recht bejubelt. Mit seinem hoch aufgerichteten Haar ähnelt er E. T. A. Hoffmann. Schwerstarbeit leistet Torsten Ranft, einer der prägenden Protagonisten des Hauses. Er schiebt die Bühnenteile unentwegt auf, ab und um, schleppt ein übergroßes Holzkreuz. Passend zum Gemälde „Die Grablegung Christi“ von Caravaggio. Mit wehender grauer Perücke gibt Ranft den dämonischen Spalanzani, zitiert mit düsterer Stimme das Gedicht „Der Rabe“ von Edgar Allan Poe und krächzt „Nevermore“, Nimmermehr. Poe und Hoffmann, zwei Brüder im Geiste. Das Klavierspiel mit sphärischer Musik der Komponistin und Pianistin Friederike Bernhardt bereichert den Abend. Die Musik reicht bis zum Song „Nature Boy“ von Jazzsänger Nat King Cole.

In das Stück eingefügt werden Texte von Bert Papenfuß über die „Schimäre Freiheit“ und von Friedrich Nietzsche über die philosophische Kategorie Mitleid. Interessanter die galligen Assoziationen, die sich in Hoffmanns wenig bekanntem Text „Der Dey von Elba in Paris“ finden. Der Spott gilt jenen geistesarmen „Ichlingen“, die hinter jeder Neuigkeit und Sensation herhecheln. „Ob Not und Elend sich in der Welt verbreiten, das ist ihnen höchst gleichgültig, solange ihr teures Selbst unangetastet bleibt.“ Künstler-, Beziehungs- und Gesellschaftsdrama, alles das ist „Der Sandmann“. Auf Mehrdeutigkeit legt die Regie wert. Zum Schluss regnet es riesige Glasaugen auf die Spielfläche. Ganz ohne Grusel geht die Chose nicht. Mehr Raffung hätte dem weit über zwei Stunden langen Abend (ohne Pause) gutgetan.

Wieder am 13. und 25. 10., 16. und 24. 11. Kartentel.: 0351 4913555