Der letzte Soldat vom Königstein

Er spricht gerade von den Oberpfälzern, die so schön dickschädelig sein können, aber auch loyal und verlässlich sind, und davon, dass er in Amberg, seiner Oberpfälzer Heimat, eine wunderbare Kindheit verbrachte, da fällt dem Oberstleutnant Rudolf Schlaffer die Alarmsirene ins Wort. Ihr schauriges Heulen weckt bei ihm Erinnerungen anderer Art: an Kalten Krieg, Atombedrohung, wöchentliche Alarmübungen am Gymnasium. Lange hat er diesen Ton nicht mehr vernommen. "Ich bin erstaunt."
Es ist Mittwoch um drei, die Zeit des zentralen Sirenentests. In Dresden, wo Rudolf Schlaffer meistenteils Dienst tut, findet diese Probe nur viermal im Jahr statt, auf dem Plateau des Königsteins aber, wie überall auf dem Land, jede Woche. So oder so: Um zu wissen, dass die Gefahr des Atomkriegs nicht aus der Welt ist, braucht Rudolf Schlaffer keine extra Erinnerung. Viele Jahre hat er die jüngere Militärgeschichte erforscht. "Die Bedrohung war nie weg."
Soldaten in Uniform zeigen Flagge
Auf der Festung Königstein stehen die ältesten noch erhaltenen Kasernenbauten der Republik. Die Soldaten jedoch sind längst alle abgezogen. Alle bis auf einen. Wenn man so will, ist Oberstleutnant Rudolf Schlaffer der einzige verbliebene Soldat der Wehranlage. Als Direktor des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden, kurz MHM, befehligt er hier eine Außenstelle: die Dauerschau "Faszination Festung" im Neuen Zeughaus.

Dass die Festungsgäste den Anblick einer Uniform außergewöhnlich finden, kann man an ihren Augen ablesen. Manchmal auch an ihren Gesten. Bei der Georgenburg nimmt ein Herr demonstrativ Haltung an. "Hände an die Hosennaht!", flachst er. Aber er tut es augenzwinkernd, mit Wohlwollen. So versteht das auch Rudolf Schlaffer. "Die Leute nehmen es freudig auf, dass es noch Soldaten gibt, die Uniform tragen", sagt er, "und damit Flagge zeigen."
Seit Oktober 2021 steht Rudolf Schlaffer an der Spitze des MHM. Bis zu diesem Zeitpunkt war er etliche Jahre nicht auf dem Königstein gewesen, seither aber immer wieder. Für das Museum, zu dem neben dem Hauptquartier in Dresden auch der Flugplatz Berlin-Gatow gehört, sei der Königstein "ein Sahnestück", sagt Schlaffer. Am liebsten hätte er ja ein Büro hier in der Friedrichsburg gehabt, scherzt er, um täglich den atemberaubenden Blick auf die Elbe zu haben. Der Barockpavillon gehört allerdings den Brautpaaren.

In Dresdens Albertstadt sind die Sonnenaufgänge aber auch sehr schön. Gern kommt Rudolf Schlaffer beizeiten zum Dienst, um sie auszukosten. Überhaupt Dresden: "Die schönste Stadt Deutschlands mit der schönsten Dienststelle der Bundeswehr." Das MHM gehört zu den bedeutendsten Geschichtsmuseen Europas. Seit 2011 besuchten 1,1 Millionen Menschen die Dresdner Dauerausstellung. Aber auch über 500.000 die Außenstelle Königstein. Nicht wenige, so sagen die Aufsichten, merken erst hier, dass es noch ein Stammhaus gibt.
Schon als Schuljunge im "Museum" gewohnt
Rudolf Schlaffer trägt die Uniform jetzt 31 Jahre. Er ist Truppenoffizier gewesen, von Haus aus Gebirgsjäger und Panzergrenadier, mit Fallschirmsprungausbildung, hat Kompanien und ein Bataillon geführt, war im Einsatz in Bosnien, im Kosovo und zweimal in Afghanistan. Was macht ein Mann, der das Gelände gewohnt ist, im Museum?
Hätte ihm jemand gesagt, er würde einmal Museumsdirektor werden, so hätte er diesen jemand verdächtigt, unter dem Einfluss von Rauschmitteln zu stehen, sagt Rudolf Schlaffer. Als die Nachricht aufkam, er würde Chef des MHM, witzelten die Kameraden: Was er denn verbrochen hätte. In welcher Vitrine man ihn besichtigen könne. Und dass er ja so alt - er ist jetzt 51 - noch gar nicht sei. Rudolf Schlaffer aber nennt sein neues Kommando einen Glücksfall. "Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen."

Es ist ein Traum, der schon in Schlaffers Kindheit, in den 1970ern, seinen Anfang nahm, auf dem Familienanwesen, einem altehrwürdigen Amberger Bauerngut. Das Haus war angefüllt mit Hinterlassenschaften der Vorfahren, mit Gemälden und alten Möbeln. Den Schulkameraden kam es so vor, als würde ihr Freund Rudolf im Museum wohnen. Für diesen aber gab nichts Schöneres, als von Vater oder Opa erzählt zu bekommen, woher dieser oder jener Gegenstand stammte. "Ich bin mit Geschichte aufgewachsen."
Trotzreaktion führt zur Offizierskarriere
Geschichte hätte Rudolf Schlaffer auch studieren wollen. Doch der Vater war der Ansicht, mit Geschichte könne man es höchstens zum Taxifahrer bringen. Er drängte seinen Sohn zur Juristerei. So begann Rudolf in Köln ein Jurastudium. Ein knappes Jahr später, als es zwischen ihm und dem finanzierenden Vater mal wieder Zwist gab, marschierte Rudolf Schlaffer kurzerhand zur Kölner Offiziersbewerberprüfzentrale.
Es war eine Trotzreaktion, die Rudolf Schlaffer in die Offizierslaufbahn lenkte, eine Laufbahn, die schon viele seiner Ahnen beschritten haben. Er ist die sechste Generation im Soldatenberuf. Bei der Bundeswehr machte er seinen Traum wahr. Er studierte Geschichte und promovierte sogar. Er hat es nie bereut, Soldat geworden zu sein, auch wenn es dabei schlimme Momente gab. "Es war die richtige Entscheidung", sagt er. "Ich würde sie immer wieder so treffen."

Rudolf Schlaffer sieht seinen Beruf realistisch. Soldat sein, das hat auch immer etwas mit Gewalt zu tun, mit Krieg, mit Tod. Eben mit jenen Dingen, von dem sein Museum erzählt. Oft genug sind die Soldaten, die im Einsatz waren, sprachlos zurückgekehrt. Sein Vater, sein Opa haben geschwiegen über den Zweiten Weltkrieg. Und nun fällt es auch ihm schwer, zu erzählen. In Afghanistan geriet er in einen Hinterhalt und wurde schwer verwundet. "Wer das nicht erlebt hat, kann das nur begrenzt nachvollziehen."
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Warum soll man in ein Militärmuseum gehen, wenn der Krieg neuerdings vor der Haustür stattfindet? Eben darum, sagt Rudolf Schlaffer, "weil er jetzt Realität ist, für uns alle". Die Gesellschaft müsse begreifen, welche Konsequenzen es habe, Armeen in den Einsatz zuschicken - für die Soldaten und für die Zivilbevölkerung. "Wir können viele Bücher darüber schreiben", sagt der Museumsdirektor. "Aber eine gute Ausstellung kann auch unheimlich viel bewirken."