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Neues Buch von Durs Grünbein: Als Dresden zugrunde ging

Der Dresdner Schriftsteller Durs Grünbein zeichnet in "Der Komet" den Lebensweg seiner Großmutter Dora nach. Zugleich gibt er ein Bild vom Alltag im Nationalsozialismus.

Von Karin Großmann
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Blick auf die zerstörte Innenstadt Dresdens 1945.
Blick auf die zerstörte Innenstadt Dresdens 1945. © dpa

Etwas Furchtbares rast auf die Welt zu. Eine Katastrophe von biblischem Ausmaß. Man ist ihr ohnmächtig ausgeliefert. Diese Urangst sitzt tief in Dora, seit sie vom Halleyschen Kometen hörte. Sie war noch nicht geboren, als er die Welt in Angst und Schrecken versetzte. Für Durs Grünbein wird er zum Symbol, zum reichlich gebrauchten Leitmotiv seines neuen Romans: Wie ein Komet näherte sich der zerstörerische Feuerball Dresden am 13. Februar 1945. Doch das Unheil kam nicht aus heiterem Himmel. Man hätte es wissen können. Man wollte nicht: Der weltberühmten Barockstadt würde schon nichts geschehen. Hatte nicht Churchill Verwandte hier?

Grünbein gesellt sich jenen zu, die den damaligen Dresdnern Selbstherrlichkeit und Ahnungslosigkeit vorwerfen. Sie hätten sich für etwas Besseres gehalten, für Auserwählte mit ihrem Blümchenkaffee in Meissener Porzellantassen. Der überdrehte Stolz sei ihr Erkennungszeichen gewesen. „Wahrscheinlich gehörte auch Großmutter zu den Wundergläubigen, die von der Unantastbarkeit der Stadt träumten.“

Durs Grünbein porträtiert seine Großmutter Dora mit so viel Zuneigung und Respekt, dass einem warm ums Herz werden kann. Wie sie als Armeleutekind hungrig und barfuß Ziegen hütete in einem schlesischen Dorf. Wie sie dem Schlachthofgesellen Oskar nach Dresden folgte und mit ihm eine Familie gründete. Wie sie die quirlige Metropole genoss und mit ihrer Freundin die Umgebung erkundete. Aus der „Trulla vom Lande“ wird eine Dame von Welt.

Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, erkundet die Stadt seiner Vorfahren.
Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, erkundet die Stadt seiner Vorfahren. © kairospress

Ein Stück Naivität bleibt. Dora hat noch vier Jahre bis zum Ausbruch des Krieges. Da ist sie knapp zwanzig. Ihre glücklichste Zeit. Grünbein rekonstruiert diese Zeit aus der Erinnerung. Als Kind belauschte er die Selbstgespräche der Großmutter, bekam Anekdoten erzählt. Das meiste habe er sich wie Puzzleteile zusammensetzen müssen. Manches hätte er die Großmutter gern noch gefragt. Zum Beispiel, was sie von den Zwangsarbeitern in den Baracken wusste. Heute fragt man sich, was man von den Fremden in ihren Containern weiß. Es ist beklemmend zu lesen, wie Nationalisten selbstgewiss ihre Macht demonstrierten, der Militärjargon in die Sprache drang. Es mache ihr Sorge, heißt es von Dora, „wie offen nun immer die Rede davon war, dass man aufrüsten müsse“.

Wieder in der „Rumpelkammer der Geschichte“

Der Büchner-Preisträger Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, geht nicht zum ersten Mal in die „Rumpelkammer der Geschichte“. Auch in seinem jüngsten Lyrikband und in seinen Oxford-Vorlesungen denkt er über Funktionsweise und Strategien des NS-Staates nach. Er findet wiederkehrende Muster. In einem Essay schrieb er vor wenigen Tagen: Er habe es nie für möglich gehalten, „dass sich der nackte Judenhass, die Fratze des Antisemitismus, einmal wieder so unverstellt zeigen würde“, in Deutschland und anderswo. In seinem neuen Buch erinnert er mehrfach an die Pogrome in Dresden, erzählt vom Verschwinden einer jüdischen Nachbarin, von permanenter Hetze und Ausgrenzung. Dora hört von ihrer Freundin, dass die Stadtsynagoge brennt. Der Brand habe die wenigsten Dresdner schlaflos gemacht, schreibt Grünbein.

Die Großmutter starb Mitte der Neunzigerjahre. Ihre Perspektive lässt sich im Text oft nicht unterscheiden von der des Autors. Das liegt auch am Ton. Bis auf wenige Ausnahmen verzichtet Grünbein auf poetische Überhöhung. Als sei dem Wahn nur mit Vernunft beizukommen, mit größtmöglicher Sachlichkeit. Sparsam fügt er Zitate von Kästner, Hölderlin, Ringelnatz ein. Hin und wieder gibt er sich in der Ich-Form als Enkel zu erkennen.

Reichlich Lokalkolorit

Mit dem Porträt seiner Großmutter liefert der 61-jährige Schriftsteller zugleich ein Sittenbild vom Alltag der gewöhnlichen Leute im Nationalsozialismus. „Geschichte widerfährt ihnen ohne ihr Zutun, ohne die Chance, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ Sie richten sich ein, passen sich an und bleiben meist das, was man anständig nennt. Wichtiger als glanzvolle Nachrichten von der Front ist für Dora der Glanz der Emailletöpfe, „der letzte Schrei im Reich der Köchin“. Doch nach kurzem Wirtschaftsaufschwung geht es hinab in die Luftschutzkeller. Grünbein notiert sehr genau, wie Politik in die Familien eingreift und die Gesellschaft zurichtet. Doras Mann Oskar wird als Soldat einberufen. Ihm ist die neue Macht mehr als suspekt. Vom blutigen Handwerk im Schlachthof erzählt er so wenig wie vom Schlachten im Krieg. Das tut der Autor für ihn in doppeldeutigen, drastischen Bildern der Gewalt.

Grünbein beschreibt die Versuche, eine brüchige Normalität aufrechtzuerhalten. „Man war doch jung und kam so durch.“ Dora spaziert, so lange es geht, zum Kaufhaus Renner am Altmarkt, zum Restaurant Gambrinus am Postplatz, zum Palast-Kino in der Alaunstraße, zur Gärtnerei Seidel in Laubegast, zum Kugelhaus im Großen Garten. Noch einmal bringt der Autor das alte Dresden zum Leuchten – bevor es zerfällt. Von der Februarnacht des Jahres 1945 aber erzählt er so, als sei noch nie davon erzählt worden, hier setzt er all seine poetische Sprachkraft ein für bestürzende Szenen von Menschen im Feuersturm. „Wie Leuchtkäfer, Glühwürmchen irrten sie umher, orientierungslos, die Stadt, eben noch von so vielen Spaziergängen vertraut, ein einziges feuerspeiendes Labyrinth, eine Geisterbahn.“ Grünbein spricht von einer Schächtung der Barockstadt. Sie sei kupiert worden, „verstümmelt wie ein Hundeschwanz“. Leichen liegen übereinander wie obszön verrenkte Puppen.

Die scharlachkranke Dora rennt in dieser Nacht aus der Johannstädter Klinik in Nachthemd und Morgenmantel zur Elbe. Ihre zwei Töchter rettet die Freundin, ihr dankt Grünbein besonders. Oskar gilt als verschollen in Russland. „In der Nacht, als Dresden zugrunde ging, war die Familie in alle Winde zerstreut.“ Mit diesem Satz beginnt das Buch, das an diesem Montag erscheint. Es liefert die Vorgeschichte zum Kindheitsroman „Die Jahre im Zoo“ von Durs Grünbein. Eines der beiden geretteten Mädchen wurde später seine Mutter.

Durs Grünbein: Der Komet. Suhrkamp Verlag, 282 Seiten, 25 Euro