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Schauspielerin Sophie Rois stürzt in Dresden das Publikum in seelische Abgründe

Politik, Pop und Poesie mischen sich beim Literaturfestival in Dresden. Man staunt nur so.

Von Karin Großmann
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Die österreichische Schauspielerin Sophie Rois las aus den Aufzeichnungen der Verbrechens-Spezialistin Patricia Highsmith.
Die österreichische Schauspielerin Sophie Rois las aus den Aufzeichnungen der Verbrechens-Spezialistin Patricia Highsmith. © Peter R. Fischer

Hoch lebe der Optimismus und der Mut! Ein Hoch dem Wagemut! Und Lorbeer dem, der springt! Diese Selbstermunterung schrieb Patricia Highsmith in ihr Notizbuch. Bei ihrer Beisetzung im März 1995 wurde das Gedicht verteilt. Es passt zum Festival „Literatur Jetzt!“, das von Mittwoch bis Sonntag im Zentralwerk in Dresden-Pieschen stattfand. Nur mit dem Optimismus einiger Enthusiasten konnte es vor 15 Jahren beginnen. Sie ließen sich nicht entmutigen, wenn ein Saal mal halb leer blieb und ein Ortswechsel sich nicht bewährte. Sie korrigierten, planten um, erfanden sich neu. Es war eine schöne Bestätigung, als die Nobelpreisträgerin Herta Müller fast tausend Zuhörer anlockte und Wolfgang Herrndorfs Ausstellung mindestens so viele Betrachter. Vor fünf Jahren zog das Festival in den ehemaligen Grafischen Großbetrieb Völkerfreundschaft. Für viele Veranstaltungen werden nun zusätzlich Stühle reingestellt.

Im ausverkauften großen Saal gibt Sophie Rois am Samstagabend der Schriftstellerin Patricia Highsmith das Wort. Sie liest aus deren Aufzeichnungen. Die Schauspielerin zeigt die US-amerikanische Autorin mit Ende zwanzig: Wie sie ihr Geld mit Comictexten verdient. Wie sie ihre Liebe zu wechselnden Frauen auslebt. Wie Alfred Hitchcock die Filmrechte an ihrem ersten Roman kauft. „Zwei Fremde im Zug“ wird zum Klassiker. Allein mit dem Auf und Ab ihrer dunkelknarzigen Stimme stürzt Sophie Rois das Publikum in seelische Abgründe. Ein Himmel- und Höllentrip.

Sätze fallen wie Nägel auf Papier

Patricia Highsmith war eine lebenshungrige Studentin, als sie zu schreiben begann, und am Ende eine garstige, einsame, whiskysüchtige Megäre mit Alterssitz im Tessin. Nach ihrem Tod fanden sich in ihrem Kleiderschrank 56 Notiz- und Tagebücher, geschätzte 8.000 Seiten. Die Selbstzeugnisse hatte sie als Teil ihres Werkes in den Generalvertrag aufgenommen, den sie Anfang der 1990er-Jahre mit dem Diogenes Verlag schloss. Er besaß damit die Weltrechte. Dem Verleger übertrug sie die Aufgabe, ihre Notiz- und Tagebücher herauszugeben. Kürzungen waren unvermeidlich. Nicht nur wegen des Umfangs. Die judenfeindlichen und rassistischen Ressentiments der Autorin sind schwer zu ertragen. Wirklich gemocht hat sie wohl nur Schnecken. Sie können über Rasierklingen kriechen, ohne Schmerz zu empfinden. Das klingt wie die Albträume, die Andra Schwarz in ihren Gedichten heraufbeschwört: „Finsternis im Herrgottswinkel“. Im Filterlicht blitzt ein Würgeengel. Tote Küken liegen im Krähennest. Die Leipziger Dichterin beginnt den Lyrik-Parcours, der zu den Traditionen des Literaturfestivals gehört. Das Publikum folgt einem Musiker von Ort zu Ort, auch in Räume, die sonst nicht öffentlich zugänglich sind. Dort wird vorgelesen: „Was die Sprache, wenn sie will, alles kann.“

Der Berliner Autor Björn Kuhligk erinnert in einem Langgedicht an Zumutungen der Corona-Zeit, an ausgefallene Kindergeburtstage, Skatrunden hinter zugeklebten Fenstern und das Schönreden von 365 Sehenswürdigkeiten direkt vor der Haustür. Aber: „Das Virus ist besser als Menschen. Es macht keine Unterschiede.“ Auch die Schülerinnen und Schüler vom Dresdner Erlwein-Gymnasium hören aufmerksam zu. Gerade haben sie sich einen Thementag lang mit der Macht des Wortes befasst. Wenn ein Wort nicht stimme, merke sie es sofort, schrieb Patricia Highsmith bei der Arbeit an ihrem Erfolgsroman „Der talentierte Mr. Ripley“: „Die Sätze dieses Buches gehen auf das Papier nieder wie Nägel.“

Plaste oder Plastik in der DDR

Arbeit sei das Einzige, so Highsmith, was im Leben von Bedeutung sei. Und damit meinte sie weder die Pflege von Alten, Kindern und Freundschaften noch die unverplante Zeit fürs eigene Wohlbefinden. Das aber müsse alles mitgezählt werden, heißt es in einer Gesprächsrunde über Arbeit der Zukunft. Die Autorinnen Sara Weber und Teresa Bücker fordern ein Umdenken: Die Anerkennung für den Einzelnen dürfe sich nicht an seinem ökonomischen Nutzen messen. Die gesellschaftlich notwendige Arbeit müsse gerechter verteilt werden. Bei Wohlstand sollte man nicht nur an Geld denken – Wohlstand bestehe auch in privater Zeit. „Wir brennen aus, während um uns die Welt brennt!“, ruft Sara Weber unter dem Beifall des vorwiegend weiblichen Publikums. Eine Zwanzig-Stunden-Arbeitswoche sei genug. „Ja, es kann einen idealen kommunistischen Staat geben“, notierte Patricia Highsmith 1957. „Aber nicht solange ein Teil der Welt arm bleibt, nicht solange die Menschen, die sich für klüger halten, auf den anderen herumtrampeln können.“

Immer wieder mischt sich das Politische ins Poetische bei diesem Festival. Es ist ja nicht nur lustig, wenn Andreas Dorau sein Video „Fred vom Jupiter“ vorführt, mit dem 1981 die Neue Deutsche Welle begann. Dorau, der Dadaist unter den Pop-Musikern, erzählt auch von unbezahlten, unsicheren Arbeitsverhältnissen. Um mehr Zeit für Kreatives zu haben, gab er seinen Angestelltenjob auf: „Alle Türen standen mir weit offen, es zog, und mir war kalt.“

"Lächeln Sie – in sich hinein!“

Ganz ähnlich sagt es die Titelfigur Muna im neuen Roman von Terezia Mora. Die Autorin porträtiert eine junge Frau zwischen Halbtagsjobs und befristeten Stellen. „Ich interessiere mich für Figuren, die die Neigung haben, sich selbst zu sabotieren“, sagt Terezia Mora. Sie liest eine Szene, in der sich die Hauptfigur von ihrem Geliebten misshandeln lässt. „Ich flog wie eine Puppe, stürzte, schlug mir den Kopf an der Ecke des Bettes an.“ Patricia Highsmith als Spezialistin für Psychopathen und Neurotiker hätte das interessiert. „Das Morden ist eine Art des Liebesspiels, eine Art des Besitzergreifens“, notierte sie. Sie beschreibt die Hände an der Kehle einer Geliebten wie Terezia Mora.

Das Festival gibt gestandenen Autorinnen ein Podium und Neulingen. Sie habe wissen wollen, wie das Land ihrer Eltern funktionierte, sagt die Mittzwanzigerin Charlotte Gneuß. In ihrem Roman „Gittersee“ erzählt sie von Dresden in der DDR-Zeit. Damit löste sie eine Debatte aus, was in der Kunst stimmen müsse oder auch nicht. Sie hätte lieber über Denunziation diskutiert, sagt sie, als darüber, ob es in der DDR Plaste hieß oder Plastik. Patricia Highsmiths Rat für ungemütliche Situationen: „Mixen Sie sich vielleicht einen Martini. Aber nur einen. Gönnen Sie sich eine Zigarette. Eine Tasse Kaffee. Lächeln Sie – in sich hinein!“