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So lief das Vorsingen für den neuen Dresdner Bürgerchor ab

Dresdens Staatsoperette will einen neuen Bürgerchor aufbauen. Da offenbaren sich Talente und Fehlbesetzungen, wie man es bei Dieter Bohlen kennt.

Von Bernd Klempnow
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Nur scheinbare Distanz: Chordirektor Thomas Runge geht mit einer Teilnehmerin des Vorsingens am Montag die verschiedenen Stimmlagen durch.
Nur scheinbare Distanz: Chordirektor Thomas Runge geht mit einer Teilnehmerin des Vorsingens am Montag die verschiedenen Stimmlagen durch. © PR SO

Die 30-jährige Dresdnerin Sandra Franke weiß, wie man eine Jury bezirzt. Als sie am Montagabend den Probensaal der Staatsoperette Dresden betrat, stellte sie sich kurz vor und sagte mit Nachdruck: „Ich will aufs Show Boat!“ Dann stimmte sie das mitreißende „A Million Dreams“ aus dem Film „The Greatest Showman“ an, um dann selbst zu merken: „Die hohen Töne kommen heute nicht so!“ Doch Intendantin Kathrin Kondaurow und ihr Team lächelten die junge Frau an. Chordirektor Thomas Runge gab ihr Noten aus dem Musical „Show Boat“, um „die hohen Töne mal abzutasten“. Einzeln und gemeinsam sangen sie eine Chorpassage aus dem Stück. „Sie fühlen sich in der Tiefe wohl“, so Runge, „geht doch, super!“

Offenbar hat Sandra Franke Chancen, in den neu aufzubauenden Bürgerchor der Staatsoperette aufgenommen zu werden. Genaueres erfährt sie in ein paar Tagen, wenn die Vorsinge-Termine abgeschlossen sind. Gut 100 Frauen und Männer haben sich dafür angemeldet. Gut 25 Mitglieder stark soll der Bürgerchor als Verstärkung des 27 Mitglieder großen Operettenchores sein. Die Neuen sollen als Erstes im November an der Neuinszenierung von Jerome Kerns „Show Boat“ über ein Mississippi-Showschiff agieren. Ähnliche Initiativen kennt man in Dresden seit längerem aus Produktionen des Staatsschauspiels und seit Kurzem von der Philharmonie. Im März sollen die musikalischen Proben beginnen, die 25 Frauen und Männer werden vor allem mit Stimmbildung gefördert.

"Brauchen Sie einen Ton vom Klavier?" - "Ja, bitte ein E!"

Gesucht wurden Menschen jedes Alters, jeder Herkunft, jedes Geschlechts. Deutsch musste nicht ihre Muttersprache sein. Sie sollten sich aber bei der Aussprache von deutschen und englischen Liedtexten wohlfühlen. Akzente waren kein Hinderungsgrund.

Fast vier Stunden ging das Vorsingen am Montag. Es traten mehr Frauen als Männer an. Viele hatten Chor-, manche sogar Bühnenerfahrungen. Da war die Dame, die stolz berichtete, dass sie einst im Philharmonischen Chor unter Kurt Masur mitgewirkt hatte. Chordirektor Runge arbeitete geduldig mit ihr, um festzustellen: „Wenn man lange nicht gesungen hat, dann schläft die Höhe ein.“ Das wird eher nichts, merkte jeder im Raum. Trotzdem gab es ein freundliches „Danke“ von der Jury.

Da war das 15-jährige Mädchen, das als Sopran schon im Kinderchor der Staatsoperette aktiv ist und nun zur Überraschung ihrer Chordirektorin auch die Tiefe konnte. Der designierte Chefdirigent ab der kommenden Spielzeit, Michael Ellis, lächelte ihr einnehmend zu. „Der Ton ist richtig gut. Respekt!“

Überhaupt war die Stimmung freundlich. Die Jury wusste um die Nervosität der Vorsingenden, ermutigte und munterte auf. Die Physiotherapeutin, die sich an „Seeräuber-Jenny“ aus der „Dreigroschenoper“ versuchte, bekam einen zweiten Versuch. Der Herr, der mit 70 Jahren und fester Stimme „noch mal was Neues versuchen will, bevor ich in die Kiste springe“, wurde für sein „Sag mir, wo die Blumen sind“ belobigt. Dass er keine Noten konnte, war kein Problem. Selbstsicher wirkte sein Auftritt – er war schon bei der Bürgerbühne des Staatsschauspiels aktiv gewesen.

Und dann kam sie und überraschte alle

Eine junge Mutter, die abends ihrem Kind Brahms „Wiegenlied“ vorträgt und dies nun auch im Probensaal tat, wurde gefragt: „Brauchen Sie einen Ton vom Klavier?“ „Ja, bitte ein E!“ Bekam sie, und der Chordirektor am Klavier stellte nach einigen Minuten fest: „Ich merke, wie Sie richtig aufgehen.“ Allerdings: „Sie wissen, dass wir vor allem abends proben und üben werden?“ Ja, sagte die junge Mutter, sie werde das irgendwie arrangieren, sie wolle unbedingt in den Bürgerchor.

Und dann gab es den Moment, wie ihn offenbar auch Dieter Bohlen und seine „Deutschland sucht den Superstar“-Jury ab und zu erleben: Eine junge Frau kam herein, schloss ihr Handy an die Musikanlage an und schmetterte mit großer Stimme die Ballade „On My Own“ aus dem Musical „Les Miserables“, als hätte sie nie anderes getan. Dirigent Michael Ellis – angetan wie alle in der Jury – fachsimpelte mit der jungen Argentinierin, die seit zwei Jahren in Dresden lebt, aber kaum Deutsch spricht, auf Spanisch über ihre Lieblingsmusicals. Dann wurde noch mal Chordirektor Thomas Runge aktiv und übte mit ihr in verschiedenen Stimmlagen die Chorpassage aus „Show Boat“. Und als die talentierte Sängerin den Raum verließ, setzte er in seinen Aufzeichnungen hinter ihrem Namen eine Eins.