SZ + Feuilleton
Merken

So war die Premiere von "Lulu" am Dresdner Staatsschauspiel

Tragik, Gewalt und jede Menge Sex: Die Dresdner Inszenierung des Dramas "Lulu" besetzt die Titelfigur Lulu mit einem Mann, der das kann. Doch lohnt der Geschlechtertausch?

Von Rainer Kasselt
 6 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Frank Wedekinds Skandalstück „Lulu“ hatte in der Regie von Daniela Löffner Premiere am Dresdner Staatsschauspiel. In der Titelrolle ist Simon Werdelis (vorn) zu erleben.
Frank Wedekinds Skandalstück „Lulu“ hatte in der Regie von Daniela Löffner Premiere am Dresdner Staatsschauspiel. In der Titelrolle ist Simon Werdelis (vorn) zu erleben. © PR/Sebastian Hoppe

Man wird nicht als Prostituierte geboren, man wird zur Prostituierten erst gemacht. Diese Erfahrung erleidet im Drama Frank Wedekinds die Titelfigur Lulu. Sie möchte Mensch unter Menschen sein, ein selbstbestimmtes Leben führen. Aber die Männer, denen sie begegnet, sind nur auf ihren schönen Körper scharf, leben ihre geheimen Fantasien aus. Lulu, das Straßenmädchen, kommt von ganz unten. Als sie zwölf ist, kauft Chefredakteur Schön das Kind ihrem Zuhälter Schigolch ab, erzieht Lulu, macht sie zu seiner Geliebten. Doch Schön will standesgemäß heiraten. Daraus wird nichts. Er verfällt ihr.

Samstagabend im Schauspielhaus des Staatsschauspiels Dresden. Nach mehreren coronabedingten Anläufen kommt die „Lulu“-Urfassung mit den Teilen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ zur Premiere. Regie führt Hausregisseurin Daniela Löffner. In Erinnerung ist ihre tabulose Inszenierung des Stückes „Sylvia und Sybille“, in der sie eine lesbische Liebe feiert. Löffner bewundert Wedekind für seinen offenen Umgang mit Sexualität. Das war im prüden kaiserlichen Deutschland um 1900 herum alles andere als üblich. Das Stück des „Bürgerschrecks“ wurde zensiert, verboten, überarbeitet. Wedekind hat es gegen die Scheinmoral der Gesellschaft geschrieben, als Plädoyer für die Rechte der Frauen. Wie sieht die Regisseurin das Stück heute?

Das Hirn macht Pause, der Körper übernimmt

Im Programmheft gibt sie Auskunft. Mit Lulu habe Wedekind eine Figur erschaffen, „die sich frei von Konventionen bewegt, ihrem Drang nach körperlichem Ausdruck“ nachgebe. Wedekind verführe uns in eine Welt, schreibt sie weiter, „in der das Hirn Pause macht und der Körper die Führung übernimmt“. Hm. Stimmt so weit. Lulu kriegt das locker hin. Sie bringt die Kerle mit Sex um den Verstand, macht sie abhängig. Sie heiratet viermal, ist keinem Mann treu, am Ende sind sie alle tot. Der erste Gatte, Medizinalrat Goll, ist ein alter weißer Mann, der sich an Lulus Tänzen ergötzt und an Herzversagen stirbt – und ihr ein hübsches Sümmchen hinterlässt.

Lulus sozialer Aufstieg setzt sich in der Ehe mit dem Kunstmaler Schwarz fort. Freilich, er ist ein Mann von recht geringem Verstand, glaubt an ihre Jungfräulichkeit. Er erträgt die Wahrheit nicht und schlitzt sich den Hals auf. Der dritte Ehemann wird wider Willen Chefredakteur Schön, der es nicht verwindet, dass Lulu ihn mit seinem Sohn Alwa hintergeht. Er fordert sie mit der Pistole zum Selbstmord auf. Im Gerangel löst sich ein Schuss, sie erschießt ihn in Notwehr. Gatte Nummer vier, der Autor Alwa, lebt wiederum von Lulus Geld. Am Ende wird er von einem Rivalen getötet.

Überraschung der Inszenierung: Lulu wird von einem Mann gespielt. Meist splitternackt. Das will etwas heißen bei einer Spieldauer von drei Stunden und fünfundvierzig Minuten. Nach der Pause leeren sich Parkett und Ränge sichtlich. Daniela Löffner hat das Stück ausschließlich mit zehn Männern besetzt. Alle lassen irgendwann die Hüllen fallen, kopulieren um die Wette, was die Lenden hergeben. Lulu ist Objekt ihrer Triebe. Die Herren treiben es mit ihr in allen Lagen, auf dem weißen Flügel und dem verdreckten Bühnenboden. Die Regisseurin lässt fast durchgängig im schwach beleuchteten Saal spielen. Das Publikum wird direkt konfrontiert mit männlichem Sexualverhalten, von brutal bis zärtlich. Auch mit Vergewaltigung und widerlicher Pädophilie, nicht an einem Kind gezeigt, sondern an einer blond bezopften Puppe.

Die stimmige Musik von Matthias Erhard, von „Muskboy“ bis „Fire“ prägt den Abend nachhaltig mit. Das Ensemble ist gut aufgestellt, Simon Werdelis als Lulu ideal besetzt. Er kann Frauen, man denke an seine hinreißende Moderatorin im Stück „Garland“. Wunderbar, wie er Modell für den Maler steht. Seine Wirkung genießend, lächelnd, heischend um Beifall, spielerisch wie ein Kind. Da stimmt jede Nuance, selbstgefällig, prüfend, elegant tänzelnd. Umwerfend, wie er sich minutenlang in ein blaues Kleid drängt. Ausziehen fällt ihm leichter als Anziehen. Ja, es gibt viele komische Momente im Stück. Lulu amüsiert sich köstlich über die lächerliche Eifersuchtsszene zwischen Schwarz und Schön.

Ermordet von Jack the Ripper

Irritierend der Einstieg in den Abend, zwanzig Minuten lang fällt kein Wort. Die nur mit Badehosen bekleideten Männer bilden eine Malerbrigade, greifen selbst zu Eimer und Farbroller, Handwerker sind knapp, streichen den riesigen, das Bühnenbild bestimmenden Spiegel schwarz an. Soll ja nicht jeder sehen, was hier passiert.
Sanft und voller Hingabe Lulus Liebesakt mit Redakteur Schön (im Gefängnis seiner Lüste: Raiko Küster). Sie rollen, kugeln über die Bühne, springen sich an, versinken in Kuss und Liebeswahn. Zuletzt erleben wir Simon Werdelis als zerbrochene, vor Angst und Kälte zitternde Kreatur. Schigolch und Alwa zwingen Lulu im englischen Exil zur Straßenprostitution im dünnen Nuttenkleidchen. Sie bettelt auf Englisch das Publikum um 50 Cent an, wieder und wieder.

Schließlich erbarmt sich jemand, steckt ihr eine Münze zu. Die Pariser Party-Passagen mit Champagner und Häppchen, Aktiengewinn und Aktienverlust, bleiben recht klischeehaft. Anders der London-Teil. Jack the Ripper (wandlungsfähig in verschiedenen Rollen: Sven Hönig) erledigt sein Geschäft mit Einkaufstasche. Er öffnet die Flasche mit Kunstblut, verteilt es rituell über den toten Körper, erhöht Lulu zur Märtyrerin. Am Flügel begleitet die geschändete Gräfin Geschwitz mit dem Gesang eines Abschiedsliedes Lulu in eine bessere Zukunft. David Kosel, schwarz verschmiert, zeigt die Tragik einer lesbischen Frau, die umsonst auf Gegenliebe hofft.

Warum wird Lulu männlich besetzt? Da darf man rätseln. Um besonders originell zu sein? Wohl nicht. Ein Skandal sähe anders aus. Die Regie erhofft sich einen neuen Blick auf das Werk. Klappt nicht so richtig. Hätte man Werdelis in Kleider gepackt, also erkennbar als Frau dargestellt, wäre die Geschichte klarer und polarisierender geworden. So verwischt sich manches. Der Geschlechtertausch nutzt sich schnell ab. Unter uns: Es ist nicht unbedingt ein Vergnügen, drei Stunden lang nackten Männern bei ihren Obsessionen zuzusehen.

Wieder am 18.9., 1. und 21.10.; Karten unter: 0351 4913555