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Premiere in Dresden: Misstraut der Forschung!

In ihrem Regiedebüt warnt Lovis Fricke in Dresden vor einer Zukunft mit abgewickelter Wissenschaft und verbotener Sprache.

Von Rainer Kasselt
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Luzia Oppermann spielt eine Dreizehnjährige im Jahr 2103 – als schon die Diktatur herrscht.
Luzia Oppermann spielt eine Dreizehnjährige im Jahr 2103 – als schon die Diktatur herrscht. © Sebastian Hoppe

Der Mann sagt: "Die Zeit, als wir versucht haben, ein Kind zu zeugen, war toll." Aber seine Frau ist schon 39. Die vielen Versuche mit künstlicher Befruchtung verschlingen ein Vermögen. Endlich klappt es, die Tochter kommt gesund zur Welt. Den Mann überflutet ein "Wuuusch" von nie gekannten Emotionen. Er nennt das Baby Dawn, Morgenröte. Hält es im Arm, drückt es sanft an sein Gesicht. Er lächelt und flüstert: "Du bist in Sicherheit. Du bist in Sicherheit." Er hat nur noch die kleine Tochter. Seine Frau, seine große Liebe, ist bei der Geburt durch einen Arztfehler gestorben. Der Mann wird fast über Nacht zum verstörten, verbohrten Wissenschaftsfeind. Thomas Eisen spielt den Monolog einfühlsam, wütend, verzweifelt – hinreißend.

Am Wochenende gab es im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels die Premiere des Stücks "Die Regression – Der Weg zurück", zwei Monate nach der Uraufführung im Berliner Ensemble. Der irische Autor Dennis Kelly, 51, entwirft in dem satirisch zugespitzten Drama eine düstere Zukunftsvision, die sich über fünf Generationen erstreckt. Dawn, jetzt erwachsen, gründet mit ihrem jüngeren Freund Jonathan eine Bewegung, Regression genannt, der sich immer mehr Menschen anschließen.

Die Bewegung will das Fortschreiten der Geschichte verhindern, traditionelle Werte erhalten und geht in den Untergrund. Bald brennen Gen-Labore, Universitäten werden gesprengt, Wissenschaftler entführt, Fernsehstudios zerstört. Die Zwillinge von Dawn und Jonathan verkünden im Namen des Nationalen Regressionsrates: "Wissen ist Qual und Nichtwissen ein Segen." Die jugendlichen Geschwister, fanatisch gespielt von Luzia Oppermann und Marin Blülle, wenden sich an die Massen: Vertraut auf euer Herz, misstraut Forschung, Medizin und Psychologie, wickelt Justiz und Sprache ab. Worte mit mehr als einer Silbe sollen verboten werden. Der "warme Nebel des Nichtwissens" wabert über der Gesellschaft.

Ausstatterin Hannah Rolland lässt auf einer spartanischen Bühne spielen, die gewächshausähnliche graue Behausung wird nach und nach abgerissen. Kostüme sind in Schwarz gehalten, spitze Hüte erinnern an Ku-Klux-Klan-Aufmärsche. Lovis Fricke verzichtet in ihrem Regiedebüt auf direkte Bezüge zu Pegida, Querdenkern oder Impfgegnern, die sich freilich wie von selbst herstellen. Die Inszenierung setzt auf Gefühle, Leidenschaft, etwas Humor und persifliert esoterische Auswüchse. Die Schauspieler sind dreifach gefordert: als Figuren, Erzähler und Kommentatoren des Geschehens. Kellys Stück, mitunter recht plakativ, macht es ihnen nicht leicht. Wenn sie Emotionen zeigen und eine Geschichte erzählen können, glänzen sie. Wenn sie Thesen verkünden oder von Terrorakten berichten, blässeln sie.

Die Aufführung beginnt großartig mit Thomas Eisens Vater-Monolog und endet ebenso emotional mit der einsilbigen Wörterkaskade von Luzia Oppermann. Die gebürtige Wienerin gastiert erstmals in Dresden und ist ein Gewinn. Sie spielt eine Dreizehnjährige im Jahr 2103 und trägt wie ihre Uroma den Namen Dawn. Die Bewegung ist längst in der totalen Diktatur angekommen. Das Mädchen, ganz in Weiß gekleidet, unablässig lächelnd, verlegen von einem Fuß auf den anderen hüpfend, bewundert ihre gleichaltrige Schulfreundin Faith. Die macht Spaß, hat keine Furcht und hält sich nicht an die verordneten Sprachnormen. Faith traut sich, das zweisilbige Wort "staunen" auszusprechen. Dawn lässt sich von der Lust am Staunen und Entdecken der Welt anstecken.

Immerhin: ein Fünkchen Hoffnung zum Schluss der 90-minütigen, stark applaudierten Aufführung. Ganz im Sinne von Dennis Kelly: "Eigentlich glaube ich wirklich aufrichtig, dass Theater die Welt verändern kann."

  • Wieder am: 9., 15. und 26. 2. im Dresdner Kleinen Haus. Kartentelefon: 0351 4913 555