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Dresdner Rabbiner Weingarten: „Never again ist jetzt!“

Rabbi Akiva Weingarten wohnt in Dresden. Seine Freunde und Familie sind in Israel verteilt, in einem Land im Krieg. Wie der Rabbi mit der Situation umgeht und was er sich wünscht.

Von Elisa Schulz
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Rabbiner Akiva Weingarten hat Freunde und Familie in Dresden. Unter anderem eine Tochter.
Rabbiner Akiva Weingarten hat Freunde und Familie in Dresden. Unter anderem eine Tochter. © Matthias Rietschel

Dresden. Es ist schon dunkel an diesem Donnerstagabend, fünf Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel. Am Eingang der jüdische Kultusgemeinde Dresden steht ein Polizeiwagen, drinnen sitzt Akiva Weingarten.

Weingarten ist Rabbi in der jüdischen Kultusgemeinde Dresden sowie in einer Gemeinde in Basel. Er war am Samstag, als der Angriff begann, gerade in der Schweiz, „Samstagmorgen war uns nicht klar, was passiert ist“. Der 38-jährige Rabbiner bereitete für den Abend einen Gottesdienst vor. Vom 6. bis 8. Oktober wurde Simchat Tora gefeiert. Das Fest der Torafreude beendet das jüdische Ernte- und Laubhüttenfest Sukkot und das Tora-Jahr. „Wir wollten eigentlich ein fröhliches Fest vorbereiten. Aber dann mussten wir den Gottesdienst anpassen“, sagt Weingarten.

„Meine Freunde und Familie sind in Israel. Sie sind in Tel Aviv, Jerusalem, einige in der Nähe von Gaza“, Weingartens Angehörige sind überall in Israel verteilt. Der Terror der Hamas richtet sich explizit gegen die israelische Zivilbevölkerung. Laut dem israelischen Militär gab es mindestens 1.200 Tote und mehr als 2.700 Verletzte. Weingarten sitzt jetzt in Dresden im Hemd hinter seinem Schreibtisch. Auf die Frage, wie es ihm geht, antwortet er: „Kompliziert.“ Mehr nicht.

Israels "9/11"

Jeder in seiner Gemeinde kennt jemanden, der gestorben ist. Ehemalige Studenten, die wieder in Israel sind, haben angefangen, Spenden zu sammeln. Akiva Weingarten massiert sich die Schläfen. Er wirkt gefasst: „Keiner weiß, was jetzt kommt. Die Menschen wurden aufgerufen, sich mit Lebensmitteln einzudecken. Es kann alles passieren“, sagt er, „wir schicken Bilder. Reden oft.“ Neben Freunden von ihm ist auch noch eine seiner Töchter in Israel.

Vor Ort ist auch Anita Haviv-Horiner. Die gebürtige Wienerin arbeitet für die Landeszentrale für politische Bildung, unter anderem in Sachsen. Sie hat von dem Angriff über die Medien erfahren, „es ist eine große Katastrophe“, sagt sie am Telefon. Seit 1979 lebt die 63-Jährige in Israel. „Es ist schrecklich. Momentan ist es eine Schockstarre, aus der man langsam aufwacht.“ Die Solidaritätsbekundungen in Deutschland unterstützt sie.

Sowohl am Montag als auch am Mittwoch gab es zwei Kundgebungen in der Dresdner Innenstadt. Auch Weingarten findet die Veranstaltungen gut. „Es hilft den Angehörigen, mit anderen in Kontakt zu kommen und Kraft zu schöpfen“, sagt er.

Moshe Barnett kommt zum Gespräch dazu. Der Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeine spricht gebrochen Deutsch, während er versucht seine Aussage zu formulieren: „Ich wünsche mir, dass die Menschen nicht vergessen, was passiert ist. Auch wenn es irgendwann vorbei ist“, er schaut suchend auf sein Handy während er spricht.

Mittlerweile wird der Großangriff auch als Israels „9/11“ bezeichnet – ein Vergleich zu dem US-amerikanischen islamistischen Terroranschlag vom 11. September 2001. Laut Israels Präsident Izchak Herzog wurden seit dem Holocaust nie wieder so viele Juden an einem Tag getötet.

„Never Again ist jetzt!“

Moshe Barnett ist noch etwas anderes wichtig: „Man sollte noch mal darüber nachdenken: Es waren junge Leute auf einem Musikfestival, Babys, Familien“, sagt er. Und Weingarten ergänzt: „Es hieß vor 78 Jahren Never Again, aber never again ist jetzt!“ Es ist etwas Grundsätzliches in dem Satz. Etwas, das von Anita Haviv-Horiner aufgenommen wird. „Wenn unsere Feinde von der Auslöschung sprechen, muss das ernst genommen werden“, sagt sie. Erst im vergangenen Jahr hat sie ein Buch „In Europa nichts Neues“, über Antisemitismus in Deutschland geschrieben. Darin geht es um die Anfeindungen gegenüber Juden in Deutschland. "Das übliche schwarz-weiße Denken muss überdacht werden", sagt Harviv-Horiner.

Auch Weingarten und Barnett sehen wieder Gefahr für Juden in Deutschland. Die Menschen haben Angst, Kontakt mit Juden aufzunehmen, glaubt Barnett. „Sie haben Angst, Teil von Demonstrationen zu sein.“

Weingarten fasst es noch weiter: „Auf der ganzen Welt werden Juden und Israelis angegriffen“, sagt er und faltet die Hände auf dem Tisch. Man habe in Dresden noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber sei vorsichtig.

„Muslime und Araber, die in Deutschland wohnen, sollen den Krieg im Nahen Osten lassen und gemeinsam hier mit uns in Frieden leben“, sagt Weingarten. Auf die Frage, wie es weitergehen wird, antworten alle drei gleich: „Keiner weiß, was kommen wird. Aber irgendwas wird kommen.“