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"Ich wusste nicht, dass ich staatenlos war"

Sami Bekir und seine Frau gehören zur Minderheit der Roma. Über ein Leben ohne Heimat - und Lebensrealitäten abseits von Klischees.

Von Daniel Krüger
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Azbije Kamberovik und Sami Bekir sind Roma in Dresden. Sie sollten 2016 nach Mezedonien abgeschoben werden, inzwischen sind sie geduldet.
Azbije Kamberovik und Sami Bekir sind Roma in Dresden. Sie sollten 2016 nach Mezedonien abgeschoben werden, inzwischen sind sie geduldet. © Marion Doering

Dresden. Wenn man Sami Bekirs Geschichte auf einem Zeitstrahl darstellen würde, dann hätte fast jedes Datum einen Amtsvermerk: "Abgelehnt", "Pass nicht auffindbar", "Ausreisepflichtig". Zwischen den einzelnen Punkten stünden Länder und Orte. Bosnien, Mazedonien, Dortmund, Riesa, Weinböhla, Coswig. 

Als Sami Bekir am neunten Oktober 2020 sein Mikrofon im Dresdner Rathaus zur Seite legt, haben sich diese Daten nochmal tiefer in sein Gedächtnis eingebrannt. 

Denn seit 2016 spricht der 42-Jährige in der Öffentlichkeit regelmäßig über das, was ihm und seiner Familie passiert ist - ein Schicksal, das seit dem Ende des Jugoslawien-Krieges hunderttausende Angehörigen der Roma-Minderheit in Europa ertragen mussten - und müssen.

Bei den Aktionstagen RomaLeben, die von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Stadt Dresden veranstaltet werden, sollen aber nicht nur Leidenserfahrungen eine Rolle spielen. Die Veranstaltungsreihe hat das konkrete Ziel, einen Einblick in die Lebenswelt der Roma zu geben - um so gängige Vorurteile und Klischees abzubauen. "Sehen und sprechen auf Augenhöhe" ist das Motto. 

Die jugoslawische Gesellschaft: "Wie Brüder"

Sami Bekir hat viel zu erzählen. Aufgewachsen ist der Mann mit dem gräulichen Fünf-Tage-Bart und der schwarzen Perlenkette in Mazedonien. Sein Vater, 1945 geboren, arbeitet in der sozialistischen Sowjetunion als Be- und Entlader im Güterzugverkehr, die Ware: meistens Orangen. 

"Viele Klischees von Roma stimmen nicht. Zum Beispiel, dass sie nicht seßhaft sind. Das war vielleicht maximal im letzten Jahrhundert der Fall", sagt Bekir. Stattdessen seien die Roma in Jugoslawienlange Zeit  gut integriert gewesen. "Albaner, Serben, Kroaten, Roma. Auf dem Balkan hat man sich geholfen und sich behandelt wie Brüder", sagt Bekir. Doch mit dem Tod des Präsidenten Tito 1980 sei dieser Zusammenhalt plötzlich verloren gegangen. 

Plötzlich ohne Pass im eigenen Land

Rassismus und Druck auf die Roma wachsen mit der zunehmenden Rückkehr der Menschen in Jugoslawien zu ihren ethnischen und religiösen Wurzeln. Bekirs Vater muss sich eine neue Arbeit suchen und geht 1988 ins nordrhein-westfälische Krefeld, wo er als Hausmeister jobbt. Seine Familie nimmt der Vater mit. "In der Schule habe ich gut Deutsch gelernt", sagt Bekir.

Als der Arbeitsvertrag ausläuft, geht es zurück nach Mazedonien. Ein junger, aber bereits tief zerrissener Staat, im Balkan toben Bürgerkriege. "Als ich 16 geworden bin, sind wir zu einer Art Bürgeramt, um meinen Ausweis zu beantragen. Auf dem Amt hat man uns dann gesagt: Wir finden keine Dokumente von dir, du bist kein Mazedonier."

Er habe bis dahin nichts davon gewusst, dass er nicht registriert war, sagt Bekir. "Meine Mutter und mein Vater hatten jugoslawische Pässe. Nach dem Zerfall Jugoslawiens waren diese nichts mehr wert." Ab diesem Zeitpunkt wird sich das Leben des damaligen Teenagers grundlegend ändern. Ein Leben voller Angst. "Ich hatte keinen Ausweis. Wenn die Polizei mich auf der Straße erwischt hat, wurde ich oft verprügelt."

Immer wieder abgeschoben

Und der Strick der staatlichen Verfolgung, er zieht sich über die Jahre immer weiter zu. Sami Bekir lernt Azbije Kamberovik kennen, eine Romni (Bezeichnung für weibliche Angehörige der Roma), sie heiraten und gründen eine Familie. Immer wieder wird Bekir nach Bosnien abgeschoben, weil seine Mutter die bosnische Staatsangehörigkeit hat.

Doch seine Frau, die wiederum den mazedonischen Pass hat, darf nie mit in Bosnien bleiben. Immer wieder kommt es auch zu Übergriffen, unter anderem wird sein Haus angezündet.  "Das Spiel hat sich permanent wiederholt", sagt Bekir. So lange, bis er sich 2009 entschließt, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. 

"Jahrelang Tag und Nacht kaum geschlafen"

"Ich wollte nicht mehr von meiner Familie getrennt sein", erzählt der gelernte Mechaniker. Von Dortmund aus wird das Ehepaar mit den Kindern in ein Asylheim nach Weinböhla gebracht, anschließend leben sie in einer Wohnung in Riesa. 

2011 erreicht die Familie die Nachricht, dass ihre Asylanträge abgelehnt wurden. "Anschließend haben wir jahrelang Tag und Nacht kaum geschlafen, weil wir Angst hatten, abgeschoben zu werden." 

In einer Mainacht 2016 kommen 30 sächsische Polizisten und nehmen zuerst nur die herzkranke Mutter Azbije und ihre drei jüngsten Kinder mit. Sie werden zurück nach Mazedonien gebracht, wo sie 18 Monate unter fragwürdigen Bedingungen, teils ohne Strom und Wasser leben werden.

Bekir und Kamberovik mit den drei jüngsten Kindern: Auf der Suche nach Ruhe.
Bekir und Kamberovik mit den drei jüngsten Kindern: Auf der Suche nach Ruhe. © privat

Ein Schock. "Sie waren gut integriert, haben sich hier wohl gefühlt." Bekir taucht mit den restlichen Kindern in Dresden unter, um seiner Abschiebung am selben Nachmittag zu entgehen. Erst als er mithilfe eines Anwalts und den Dresdner "Gruppen gegen Antiromaismus" Monate später durchsetzen kann, dass er und seine Kinder vorläufig bleiben dürfen, wendet er sich an die Öffentlichkeit.

Der Fall schlägt auch medial hohe Wellen. Bekir hält dutzende Vorträge und wird sogar vom Augstein-Magazin "Der Freitag" porträtiert. In Riesa setzen sich auch Schulfreunde der Kinder für eine Rückkehr des getrennten Familienteils nach Sachsen ein.

Armut hat einen Grund, sagt Sami Bekir

Erst am 13. September 2017 folgt die Familienzusammenführung, 2018 der Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen. Bekir und Kamberovik leben seitdem ruhiger sagen beide, doch noch immer müssen sie alle sechs Monate zum Amt, um ihre Aufenthaltserlaubnis verlängern zu lassen. 

Das schränkt die mittlerweile zehnköpfige Familie stark ein. So ist das Ehepaar noch immer auf Arbeitssuche, während die Kinder teils schon eine Ausbildung begonnen haben. Bekir ist überzeugt, dass Staatenlosigkeit und politische Verfolgung die Hauptgründe sind, warum es in vielen Roma-Familien Bildungsdefizite und oft auch bittere Armut gibt. 

Menschen mit unterschiedlichen Lebensweisen

"Niemand möchte betteln, schwarz arbeiten oder sogar Illegales tun", sagt der Familienvater. "Die Leute wollen nicht, sie müssen. Weil sie Essen und Trinken brauchen." Auf Sozialhilfe lege es niemand, den Bekir kennt, an. "Würde man allen Roma das Recht geben, arbeiten zu gehen und Geld zu verdienen, gäbe es keine Probleme."

Spielt diese Zugehörigkeit in seinem Roma-Bekanntenkreis überhaupt eine Rolle? Kaum, meint Bekir. Klar gebe es die gemeinsame Sprache, das Romanes. Dann aber seien da Menschen mit verschiedenen Religionen und ganz unterschiedlichen Lebensweisen.

Rückkehr nach Dresden geplant

Das Besondere für ihn: "Roma sind sehr tolerant. Egal ob du Christ bist, Muslim oder gar nichts glaubst. Hauptsache, es kommt von Herzen. Ich würde zum Beispiel auch nie sagen, meine Tochter darf keinen deutschen Partner haben."

Der Glaube an Zusammenhalt, relativ frühes Heiraten und ausgeprägte Musikalität sind die kulturellen Eigenschaften, die für Bekir heute noch in aller Vielfalt bei Roma-Angehörigen überall auf der Welt vorhanden sind. Der Familienvater selbst hat ein Faible für Geselligkeit und Trubel.

Deshalb gefällt dem Ehepaar, das derzeit in Meißen wohnt, auch Dresden besonders gut. "Hier sind viele Menschen, sie sitzen zusammen, trinken Abends ein Bierchen. Wir haben viele Freunde in Dresden, die Stimmung ist toll." Nächstes Jahr - wenn alles klappt - wollen sie zurückkommen. Eine neue Chance auf einen friedlichen Lebensabschnitt - ohne Amtsvermerk. 

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