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Stiftung Lichtblick: Dresdner schaffen ukrainischer Familie ein neues Zuhause

Dank einer nachbarschaftlichen Hauruck-Aktionen sind Victoria, Kira und Ivan nach ihrer Flucht nun in Cossebaude daheim. Doch nicht nur ihnen ist damit geholfen.

Von Nadja Laske
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Victoria (vorn l.) kann nach fünftägiger Flucht mit Tochter Kira (vorn M.) und Sohn Ivan (hinten M.) endlich zur Ruhe kommen. Ihre neuen Nachbarn: Maria (hinten l.), Zhanna (r.), Ute (Mitte l.) und Brigitte (Mitte r.).
Victoria (vorn l.) kann nach fünftägiger Flucht mit Tochter Kira (vorn M.) und Sohn Ivan (hinten M.) endlich zur Ruhe kommen. Ihre neuen Nachbarn: Maria (hinten l.), Zhanna (r.), Ute (Mitte l.) und Brigitte (Mitte r.). © Sven Ellger

Dresden. Das Beste kommt zum Schluss. Nach der ganzen großen Aufregung, dem Sammeln und Suchen, Schleppen und Schrauben. Das gute Ende ist ein Anfang: Victoria hat ein neues Zuhause, zusammen mit ihren Kindern Kira und Ivan. Sie hat Menschen an ihrer Seite, die ein berührendes und kraftvolles Miteinander verbindet. Eine Nachbarschaft, die jetzt eine andere ist als zuvor und hier davon erzählen will.

Der Weg, den sie alle zurückgelegt haben, ist gar nicht so einfach beschrieben und hat etliche Steine, die auch aus Trümmern bestehen. Für Victoria und ihre Kinder beginnt er in einer kleinen Ortschaft in der Nähe der ukrainischen Stadt Donezk. In dieser Region marschierte die russische Arme gleich zu Beginn des Überfalls auf die Ukraine vor reichlich vier Wochen ein. Die Bevölkerung dort leidet unter massiven Bombardierungen, unter schwerer Bedrohung und katastrophalen Lebensverhältnissen.

Victoria ist Krankenpflegerin, ein wichtiger Beruf auch in ihrer Heimat. Doch dort mussten die Bewohner fliehen, und auch die 35-Jährige hatte nur noch das eine Ziel: ihre fünfjährige Tochter Kira und ihren halbwüchsigen Sohn Ivan in Sicherheit zu bringen. Zum Glück ergab sich die Chance, nach Deutschland zu reisen, wo eine ihrer Freundinnen Freunde hat.

Nächte auf kaltem Bahnhofsboden

Für Maria indes beginnt der Weg an einem normalen Wochentag, den sie nie vergessen wird. Sie gehört zu der engagierten Runde, die nun drei neue Nachbarn hat. Über ihren Vermieter erreichte sie die Anfrage, ob sie bereit wäre, sich um eine geflüchtete Familie aus der Ukraine zu kümmern. Nicht sie allein, sondern auch andere Bewohner des Quartiers an der Dresdner Straße in Cossebaude.

Besagter Vermieter bot eine leer stehende Wohnung im Karree an. Er wolle sie gern zur Verfügung stellen. "Wir hatten zunächst verstanden, dass wir der Familie bei der Eingewöhnung in Dresden helfen sollten", erzählt Maria. Kein Problem! Doch dann stellte sich heraus: Damit ist es nicht getan. "Unser Vermieter lebt weit weg von hier und brauchte unsere Unterstützung bei der Einrichtung der Wohnung."

Viel Zeit, über diese überraschende Situation nachzudenken, blieb nicht. "Wir haben über die Briefkästen ganz schnell Zettel an die ganze Nachbarschaft verteilt und gefragt, wer bereit ist zu helfen und was er beitragen kann." Rund 90 Prozent der Anwohner, mehr als ein Dutzend, meldeten sich zurück - mit Geld- und Sachspenden, dem Angebot zu handwerkern oder Möbel zu transportieren.

Diese große Bereitschaft, sich einzubringen, hat Maria und ihre Mitstreiter zur Höchstform auflaufen lassen: Innerhalb weniger Tage suchten sie über Freunde, Familie, Kollegen und Bekannte, Kleinanzeigen und Discounter eine komplette Wohnungseinrichtung zusammen. Gebraucht wurde alles: Betten, Schränke, Tisch und Stühle, Regale und Waschmaschine, eine Küche mit allen Geräten.

In nur einer Woche entstand aus einer leeren Wohnung ein Zuhause mit Sofa und Vorhängen, gemütlicher Beleuchtung, Pflanzen und Blumen. Die Männer haben überwiegend Möbel transportiert und aufgebaut, die Frauen geräumt, geputzt und die ganze Mannschaft mit Essen und Getränken versorgt oder Lebensmittel eingekauft, um den Kühlschrank für den ersten Bedarf zu füllen.

Lediglich die Einbauküche konnten die Nachbarn nicht aus zweiter Hand kaufen. "Der Raum ist so klein, dafür gab es keine Standardlösung", sagt Maria. Die Stiftung Lichtblick der Sächsischen Zeitung unterstützte den Kauf und sammelt gerade explizit Geldspenden, um auch anderen Geflüchteten aus der Ukraine die Ankunft in Dresden zu erleichtern.

Unterdessen stiegen Victoria, Kira und Ivan in einen der überfüllten Züge, die zahllose Fliehende quer durch die ganze Ukraine zur polnischen Grenze brachten. Fünf Tage lang waren die drei unterwegs, harrten auf Bahnhöfen aus, in der Hoffnung auf die nächste Zuganbindung, und mussten in der winterlichen Kälte auf dem Fußboden der Bahnsteige übernachten. "Kira wurde dabei sehr krank", erzählt Zhanna, die schon vor Jahren aus der Ukraine nach Deutschland gekommen ist und Victorias Schilderungen übersetzt.

Ganz gleich, wohin ihr Weg sie führen würde, nur eins habe sie gehofft, erzählt sie nach ihrer Ankunft in Cossebaude: "Dass meine Kinder nicht länger auf einem kalten Fußboden schlafen müssen."

Dass die Familie hier eine eigene, komplett eingerichtete Wohnung erwartet, konnte sie kaum glauben. Nun ist sie seit gut einer Woche in Dresden. Victoria hat bereits einen Sprachkurs begonnen und Ausschau nach einem Job als Pflegerin gehalten. Ivan lernt per Onlineunterricht in der Ukraine weiter, um im Sommer seinen Schulabschluss zu schaffen. Kira hat ihre schwere Erkältung überstanden und tobt mit einem riesigen Koala-Plüschbären durch die Wohnung. Bald soll sie in den Kindergarten gehen.

Blick über die eigene Türschwelle

Immer wieder telefonieren sie mit den Lieben, die unter schlimmsten Bedingungen in der Heimat geblieben sind: Victorias Mann, der Vater ihrer Kinder, Familienangehörige und Freunde. Wie schnell kann man in einem neuen Leben ankommen, für das keine andere Wahl blieb? Wie lange braucht es, um das Erlebte zu begreifen und wie viel Kraft für die Zukunft?

Maria, Zhanna und all die anderen Helfer haben die Arme ausgebreitet und die Herzen geöffnet. Sie sind zu einer Nachbarschaft zusammengewachsen, die noch viel besser ist, als sie vorher war. Sie zeigen, was zu schaffen ist, wenn der Blick über die eigene Türschwelle reicht und viele Hände anpacken. Ein Sprichwort sagt: Wenn der Mensch zu schnell reist, muss die Seele erst nachkommen. Diese Geduld werden alle brauchen.