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Mutter als Kindsmörderin: So ist die "Mama Medea" im Dresdner Schauspielhaus

Mit „Mamma Medea“ holt das Staatsschauspiel Dresden die mythische Tragödie "Medea" ins Heute und verwundert mit einem krassen Schluss, über den man streiten kann.

Von Rainer Kasselt
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Henriette Hölzel (hier mit "Jason" Matthias Reichwald) als brilliert als Medea mit immenser Ausdrucksstärke von liebend, mütterlich, zornig, tödlich.
Henriette Hölzel (hier mit "Jason" Matthias Reichwald) als brilliert als Medea mit immenser Ausdrucksstärke von liebend, mütterlich, zornig, tödlich. © Foto: Sebastian Hoppe

Das Drama „Medea“ von Euripides ist über 2.500 Jahre alt und wird immer wieder neu bearbeitet. Das Bild dieser zerrissenen, stolzen und unglücklichen Frau schwankt in der Geschichte: Rachefurie, Dämonin, Wahnsinnige, Hexe oder Heilige. Bei Christa Wolf ist sie im vielgelesenen Roman „Medea – Stimmen“ ein Mensch zwischen zwei Welten, fremd hier wie dort. Sie will ganz liebende Frau und frei sein, nicht Trophäe des Mannes. Ähnlich sieht sie der flämische Autor Tom Lanoye im 2001 uraufgeführten Stück „Mamma Medea“. Am Dienstagabend erlebte es im Dresdner Schauspielhaus eine mit starkem Beifall aufgenommene Premiere.

In seiner Version erzählt Lanoye zunächst die Vorgeschichte des archaischen Stoffes. Medeas Heimat Kolchis wird von König Aietes, ihrem fremdenfeindlichen, verhärteten Vater, patriarchalisch regiert. Als der verwegene Grieche Jason mit breiten Schultern im Jackett auf der Jagd nach dem Goldenen Vlies eintrifft, verliebt sie sich auf Anhieb in ihn. Medea sehnt sich nach einem aufregenderen Leben. Sie kennt das Geheimnis, wie man Stiere, Riesen und Drachen besiegt, und steckt es Jason. Mit ihm und dem Goldenen Vlies verlässt sie die Heimat. Der Preis, den sie für ihre Liebe zahlt, ist hoch. Sie verrät Vater und Schwester, stellt dem Bruder eine Falle, lässt ihn heimtückisch töten. Vergeblich bittet sie die Zauberin Kirke um Freisprechung von ihren Sünden.

„Jetzt wirfst du mich weg, für jüngeres Fleisch?“

Sieben Jahre später spielt der bekanntere Teil der Geschichte. Medea lebt mit Jason im Exil in Korinth. Sie sind verheiratet, haben zwei Kinder. Der Ehekrieg ist in vollem Gange. Es hagelt Vorwürfe. Er geht fremd, bandelt mit Kreusa an, der schönen, zwanzig Jahre jüngeren Tochter von König Kreon. Medea hat ihr Leben für ihn aufgegeben. „Jetzt wirfst du mich weg, für jüngeres Fleisch?“ Er zuckt die Schultern, wird Kreusa heiraten, verlockt von Thron und Aussteuer. Medea steht seiner Zukunft im Weg. Kreon will sie ausweisen, als Fremde ist sie in Korinth nie warm geworden.

Die Inszenierung assoziiert aktuelle Migrationskonflikte. Medeas Kinder sollen bei Jason bleiben. Doch durch Jasons Verrat zutiefst verletzt, wehrt sie sich mörderisch. Tötet mit einem vergifteten Kleid, das in Flammen aufgeht, Kreusa und den König. Und beschließt, ihre Kinder umzubringen. Regisseurin Lilja Rupprecht lässt das 140 Minuten lange Stück ohne Pause spielen. Die Darsteller sind nach antiker Tradition geschminkt, die Kolcher tragen helle Kleidung, die Griechen dunkle. Live-Musiker Fabian Ristau illustriert an Trommel und Schlagzeug die Kämpfe.

In Leidenschaft und Zorn und Wahn versinkend

Lanoyes Text wird von Medea und den Ihren im Blankvers gesprochen, Jason und seine Begleiter benutzen eine sehr prosaische Alltagssprache. Sie bringt bei allem Ernst etwas Humor in die Handlung. Videos öffnen die Bühne von Anne Ehrlich ins Weite, zunächst bestimmen fünf dorische Säulen und steil aufragende Treppen das Bild. Die Tragödie beginnt mit einem Prolog von Thomas Melle. Ein Text über Grenzziehungen, Reise nach innen und ins „Sperrgebiet der eigenen Fremde“. Nachzulesen im Programmheft.

Medea ist die Traumrolle vieler Schauspielerinnen. Sandra Hüller, Nina Hoss, Birgit Minichmayr haben sie jüngst an großen Häusern verkörpert. In Dresden wird sie von der hochbegabten Henriette Hölzel gespielt, die eben noch als „Edith Piaf“ brillierte. Was für eine Ausdrucksstärke: leidenschaftlich liebend, zärtlich flüsternd, am Verrat leidend, zornige Schreie ausstoßend, halb im Wahn versinkend. Beeindruckend die Videosequenz, als Medea groß im Bild erscheint, sich langsam auflöst, aus dieser Welt verschwindet, in der für sie kein Ort ist, nirgends.

Beide Eltern werden zu Mördern an ihren Kindern

Matthias Reichwald spielt Jason anfangs in Erobererpose, wird aber kein Held, ist unsicher, fahrig, die Worte suchend, weinerlich. Als er meint, er sei das eigentliche Opfer im Stück, wird er vom Publikum ausgelacht. Am besten gelingt ihm der gestresste Ehemann von heute. Ständig Streit mit Medea. „Halt doch mal die Luft an“, schimpft er. „Reiß dich zusammen“. Es müsse sich was ändern. „So gehe ich kaputt. Wir leben in einer Hölle, du und ich.“ Ehepaare werden sich wiederfinden, amüsiert oder ertappt.

Ein Clou ist das Clownspaar Frontis und Melas, bravourös auf die Bretter gebracht von Fridolin Sandmeyer (als Gast) und Ensemble-Mitglied Jannik Hinsch. Jeder Auftritt ein Hit. Ob tänzelndes Ballettpaar, unwillige Kindermädchen, brüllende Kriegsreporter oder spöttische Berichterstatter. Vom Krach des Ehepaars sind sie so genervt, dass sie sich Perücken aufsetzen und die Streithähne hinreißend persiflieren.

Über den Schluss des Dramas darf man streiten. Autor Lanoye sieht Medea und Jason als gleichberechtigte Partner, was so nicht rüberkommt. Medea ist die Stärkere. Bei Euripides tötet sie ihre Kinder. Bei Lanoye erschießt Medea (hinter einer Schattenwand) den Jungen und Jason das Mädchen. Diese Lösung verwundert – und überzeugt nicht. Nichts im Stück deutet auf sie hin. Aber sie schafft Gesprächsstoff. Und sehenswert ist dieser Abend allemal.

Wieder am 6. und 28. März, Kartentelefon 0351 4913 555