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Chasing Waterfalls in der Semperoper: Jubelstürme für Künstliche Intelligenz

Die Frage nach dem „Ich“ kann kein Computer beantworten. Nicht einmal, wenn er ein Singspiel mit und um Künstliche Intelligenz in Dresden schafft.

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In der Oper „Chasing Waterfalls“ überlagern zunehmend visuelle Verfremdungen das reale Bühnengeschehen, bis die Grenzen verschwimmen und der Computer übernimmt. Tosenden Applaus gab es dafür zur Premiere.
In der Oper „Chasing Waterfalls“ überlagern zunehmend visuelle Verfremdungen das reale Bühnengeschehen, bis die Grenzen verschwimmen und der Computer übernimmt. Tosenden Applaus gab es dafür zur Premiere. © Daniel Koch / Semperoper Dresden

Von Jens Daniel Schubert

Das Einfangen von Wasserfällen – „chasing waterfalls“– ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die Semperoper hat sich zum Spielzeitauftakt an die Uraufführung der gleichnamigen „Artifical Intelligence Oper“ gewagt. Die computerbewegte Klang-Bild-Spiel-Performance voller fesselnder, bewegender Eindrücke löste nach 70 Minuten betroffene Stille und dann langanhaltenden, teilweise euphorisch begeisterten Applaus aus. Auch eingeschworene, sonst eher konservative Opernfreunde konnten sich der Faszination des Unfassbaren nicht entziehen.

Die elf wesentlichen, hinter der Bühne agierenden Künstler, die sich mit den sechs Darstellern am Schluss verbeugten, verantworteten Bereiche, die man sonst kaum in einem Opernprogrammheft findet. Neben dem Namen des Komponisten und Dirigenten des Abends Angus Lee liest man im Programm „Phase 7“ und „Kling Klang Klong“, die Namen von Künstlerkollektiven, neben der Librettistin Christiane Neudecker den von Sven Sören Beyer, der bei Idee, Konzept, Inszenierung und Bühnenbild an erster Stelle steht.

Leuchten da Nervenbahnen oder Wasserläufe?

Auf der wassergefluteten Bühne steht eine riesige rostbraune Treppe, einer Pyramide ähnlich, die zum Schluss durch hinablaufendes Wasser zum Bild des titelgebenden Wasserfalls wird. Darüber eine sich verändernde Lichtkonstruktion. Alles kann im gezielten Licht auftauchen und wieder im Dunkel verschwinden. Davor schwebt, als Projektionsfläche, ein Gaze-Vorhang. Zu zunehmend elektronisch veränderten, zunächst an Kammermusik gemahnenden Instrumentalklängen sieht man darauf abstrakte Formen eingeblendet. Leuchten hier Wurzeln oder kosmische Galaxien auf, Nervenbahnen mit ihren Knoten, oder Wasserläufe? Der Zuschauer muss selber sehen, selber denken und assoziieren.

Dann ein erstes Mal das reale Ich – oder ist es virtuell? Projiziert aus verschiedenen Kameraperspektiven, eine direkt aus dem Computerbildschirm, an den sich die Frau setzt, um sich einzuloggen. Und die Verzweiflung der Frau, als das Login misslingt: Du bist nicht Du, sagt der Computer. Wie kommt er dazu? Hier beginnt die zentrale Frage zu kreisen: Wer bin ich? Wer bin ich und was macht mich aus.

Tödliche "Empfehlung" eines Mobbers an sein Opfer

Das Ich verkörpert in beeindruckender spielerischer Dichte und großartig expressiv der Gesang von Eir Inderhaug. Sie begegnet anderen Formen ihres eigenen Ichs, Ego fluens genannt. Als Kind mutwillig, geradezu übermütig Tania Lorenzo, als Schein und Glück eher verhalten Jessica Harper und Julia Mintzer. Eindrucksvoll Sebastian Wartig als Erfolg, differenziert Simeon Esper als Zweifel.

Diese „Ego fluens“ sind Modifikationen des eigenen Seins. Sie leben in einer virtuellen Welt. Sie sind entstanden aus der Veränderung des Realen auf Basis von Wünschen und Erwartungen. Hier ein geschöntes Foto, dort eine aufgehübschte Story, da ein ausgeschmücktes Erlebnis. Wer kennt das nicht. Jeder muss sich dazu verhalten. Es scheint unmöglich sich ihnen zu entziehen. Bilder von Cybermobbing drängen sich auf, etwa von der verhängnisvollen "Empfehlung" eines Mobbers an sein Opfer: "Geh doch sterben – ich meine das wirklich nicht böse!“

Im Trommelfeuer von Techno-Musik

Was tut der Mensch, was ist seine Absicht, was ist seine Ansicht. Der Text, wechselnd zwischen englisch und deutsch, durch Übertitel gut nachzuverfolgen, spielt mit sprachlichen Bildern, Ähnlichkeiten und poetischen Überhöhungen. Wie die Musik verfremden Computer Text und Bild. Lichteffekte verändern die Perspektive auf die Handelnden. Zunehmend überlagern die Verfremdungen das Reale, die Grenzen verschwimmen, der Computer übernimmt.

Auf dem Höhepunkt liegen die Menschen, nach einem Trommelfeuer von technoartiger Musik, als blau angestrahlte Kokons auf der Pyramide, ein roter Scannerstrahl tastet sie ab, Musik, Text und auch der Gesang werden vom Computer, nur basierend auf Algorithmen, ohne aktives menschliches Zutun geschaffen. Technisch faszinierend, ist es als Mittel aber kein Selbstzweck, sondern Teil der Geschichte.

Du wirst sterben, wir leben weiter

Widerstand scheint zwecklos. Wenn das wiedererwachte Ich „Ich bleibe ich, wer ich auch bin!“ sagt, klingt das wie ein verzweifelter Aufschrei. Hält sie ihren anderen „fluens ego“ entgegen, dass sie von ihnen unabhängig sei, sie erschaffen habe, sie löschen und ausschalten können, ahnt man die Unmöglichkeit, die in dem einfachen Hinweis auf den Tod beängstigend wird. Du wirst sterben, wir leben weiter.

Die Artificial Intelligence Oper hat keine Lösung, schon gar keine tröstliche. Die muss der Mensch finden. In dem, was er ist und glaubt. Vielleicht auch in der Gemeinschaft, einem Aspekt, der an diesem Abend auf der Bühne ausgeklammert ist. Vielleicht, weil das Du und das Wir im Kreisen um das eigene Ich nicht nur in der Bühnen-, sondern auch in der realen Welt und Gesellschaft in der Gefahr ist, verloren zu gehen. Die Geister, die ich rief…

Nächste Aufführungen: am 8. und 11. September.

Kartentelefon: (0351) 4911 705