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Prozess um tödliche Schleusung: „Ich fühle mich nicht, als würde ich leben“

Eine Frau starb im vergangenen Juli an der A17 in einem Schleuserfahrzeug, andere wurden schwer verletzt. Zwei von ihnen sagten nun vor Gericht aus.

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Rettungs- und Polizeikräfte am verunglückten Schleuser-Transporter an der A17. Eine Frau starb, andere wurden schwer verwundet.
Rettungs- und Polizeikräfte am verunglückten Schleuser-Transporter an der A17. Eine Frau starb, andere wurden schwer verwundet. © Marko Förster

Von Friederike Hohmann

Er ist ein schmächtiger, unauffälliger Mann, kann schlecht laufen und ist schwer gezeichnet von einem Unfall, den er auf der Flucht nach Deutschland erlitt. Als Curtulus C. vergangenes Jahr mit seiner Familie in der vom Erdbeben schwer getroffenen Stadt Elbistan in der Türkei zur weiten Reise nach Deutschland aufbrach, ahnte er nicht, dass ihm an alles, was danach geschah, später die Erinnerung fehlen würde. Dass die vierköpfige Familie erst mit dem Bus nach Ankara fuhr, dann nach Serbien flog und später zu Fuß die Grenze nach Ungarn passierte, dabei von Schleusern begleitet stundenlang durch einen Wald lief und das meiste Gepäck zurücklassen musste, hat ihm seine Frau erzählt.

Auch, dass die Familie in Ungarn in einer von Schleusern betriebenen Sammelunterkunft auf die Weiterfahrt nach Deutschland wartete, erfuhr er von ihr. Nun berichten die beiden von ihrer Flucht vor dem Landgericht Dresden. Dort muss sich unter anderem der Fahrer des Schleuserautos für seine Taten verantworten.

Am Prozesstag dieser Woche berichtet auch die Frau von Curtulus C. - aus eigener Erinnerung -, wie es nach dem Zwischenstopp in Ungarn weiterging. Ihre Familie und vier weitere Personen sollten, nachdem man ihnen ihre Handys wieder ausgehändigt hatte, mitten in der Nacht in einen weißen Kastenwagen steigen. Vorher sollten sie noch einmal zur Toilette gehen, da der Transporter ohne Stopp durchfahren würde.

Die Angst vor einem Unfall hielt sie wach

Zu acht versuchte man, sich für die lange Reise von Ungarn über die Slowakei und Tschechien nach Deutschland in dem fensterlosen Kasten ohne Sitze und Haltegriffe einzurichten. Man lehnte sich an die Wände, die Mutter hatte die Köpfe ihrer Töchter auf dem Schoß. Sie selbst fand keinen Schlaf. Zu rasant war die Fahrt von Beginn an. Zu groß war ihre Angst vor einem Unfall. Immer wieder bremste der Fahrer, zu dem sie keinen Kontakt hatten, scharf, sodass alle im Kasten umhergeworfen wurden.

Ein junger Mann versuchte erfolglos, den Fahrer durch Klopfen und Rufen zu langsamerem Fahren zu bewegen. Kurz vor dem Ziel hätte ihnen der Fahrer dann sein Handy durch einen Spalt nach hinten gereicht und sie aufgefordert, ein Video aufzuzeichnen und sich für den Transport nach Deutschland zu bedanken.

Doch wenige Minuten später kam es dann zu dem folgenschweren Unfall. Der Fahrer, der Georgier Gasan P., hatte versucht, sich einer Kontrolle durch die Bundespolizei zu entziehen und kam bei Bahretal von der Fahrbahn ab. Der Wagen knallte gegen einen Wildzaun und überschlug sich mehrmals. Gasan P. verließ das Fahrzeug und versuchte zu fliehen. Alle Geschleusten wurden schwer verletzt. Eine 44-jährige Türkin verstarb noch am Unfallort.

Alle anderen wurden in Krankenhäuser gebracht. Curtulus C. kann sich an die Wochen im Krankenhaus und die Operationen nicht erinnern. Schwere Hirnblutungen sind die Ursache für die Amnesie, die nach Auskunft seiner Ärzte noch länger anhalten wird. Er verlor eine Niere, hat Schwierigkeiten beim Laufen und muss regelmäßig zu Ärzten und Physiotherapeuten. Seine Frau berichtete von den schweren Albträumen ihres Mannes.

Auch die Ängste ihrer älteren Tochter, die bei dem Unfall schwer am Bein verletzt wurde und noch nicht wieder richtig laufen kann, beschäftigen sie sehr. Sie selbst wurde auch schwer am Bein und am Kopf verletzt, hat noch Platten im Gesichtsbereich. Oft könne sie nachts nicht schlafen. „Ich fühle mich nicht, als würde ich leben“, sagte die Zeugin, die neben ihrem Mann und ihrer Tochter auch als Nebenklägerin im Prozess gegen den Gasan P. und den Tadschiken Said S., der mit einem anderen Fahrzeug die Schleusertour begleitet haben soll, auftritt.

Die Schleuserfahrzeuge waren in Kolonne unterwegs

Zu Beginn des zweiten Verhandlungstages vor der Schwurgerichtskammer berichteten zwei Ermittler der Bundespolizei über die Ergebnisse ihrer Recherchen zu der Schleuserfahrt vom 13. Juli 2023 und den weiteren fünf Fahrten, die Gasan P. vorgeworfen werden. Der Hauptsachbearbeiter gab zu Beginn zunächst einen Abriss über die Situation, die sich im vergangenen Jahr zuspitzte. Wurden in den Grenzregionen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen 2021 etwa achttausend illegale Einwanderer aufgegriffen, waren es im vergangenen Jahr 32.000. Früher seien die Schleuser den Aufforderungen der Polizei meist gefolgt. Zunehmend versuchten sie nun zu fliehen. Immer häufiger hätte man am Fahrbahnrand zurückgelassene Fahrzeuge vorgefunden.

Bei ihren Ermittlungen stellten die Sachbearbeiter fest, dass die Schleuser in der Regel in Kolonnen unterwegs waren. So war es aus ihrer Sicht auch am 13. Juli, als nachts vier Fahrzeuge gleichzeitig in Ungarn starteten und bis nach Deutschland, meist mit überhöhter Geschwindigkeit und ohne Halt, durchfuhren.

Alle vier Fahrzeuge wurden, teilweise nur in Abständen von wenigen Sekunden, von den Mautstellen in Ungarn, der Slowakei und in Tschechien erfasst. Die Auswertungen der Handys zeigen, dass sich die Fahrer aller vier Fahrzeuge über einen WhatsApp-Gruppenchat austauschten. Drei weiße Renault Trafic fuhren voraus. Als letzter fuhr ein VW Taigo, dessen Fahrer offensichtlich die Übersicht behalten sollte. So forderte er einmal die Fahrer der Transporter auf, nicht zu schnell zu fahren.

Der Halter aller drei Transporter ist Jasser C. aus Berlin. Sein Vater hat einen Fuhrpark von 24 Renault Trafic, die er per Handschlag an Interessenten vermietet. So soll er es den Ermittlern erzählt haben. Dass bei einem schweren Unfall eine Frau in seinem Transporter ums Leben kam, habe ihn nicht interessiert. Auch nicht, dass ein Schleuser das Fahrzeug steuerte. Damit habe er nichts zu tun.

Die Angeklagten verfolgten die Zeugenaussagen ohne sichtbare Emotionen. Nachdem sie sich am erstens Verhandlungstag noch zu ihrer Person und den Vorwürfen geäußert hatten – wenn auch mit widersprüchlichen Aussagen – wollten sie nun nichts mehr sagen. Am kommenden Dienstag wird der Prozess fortgesetzt. Das Urteil wird Anfang März erwartet.