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Dresdens Glanz und Chemnitz‘ Gloria 

Ist "Elbflorenz" zu zufrieden mit sich selbst? Warum die Industriemetropole Chemnitz sich im Kulturhauptstadt-Wettbewerb durchsetzen konnte.

Von Oliver Reinhard
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Dresden hat viel traditionelle Kultur zu bieten.  Wunsch und Wille, daran etwas  zu ändern, sind hier nicht sonderlich weit verbreitet.
Dresden hat viel traditionelle Kultur zu bieten. Wunsch und Wille, daran etwas zu ändern, sind hier nicht sonderlich weit verbreitet. © dpa-Zentralbild

Hinterher glaubt man sich immer schlauer. Aber am Anfang steht eine große Überraschung: Chemnitz zieht als eine von fünf deutschen Städten ins Finale des Wettbewerbs um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2015“. Nicht der größte sächsische Mitbewerber, das kultursatte und stolze Dresden. Auch nicht der charmante Underdog Zittau mit seiner grenzübergreifenden Drei-Länder-Bewerbung. Sondern ausgerechnet diese schwer zu fassende und seit Jahren bis an die Grenzen der Verzweiflung um ihr Selbstbild ringende Stadt irgendwo da unten am Erzgebirge.

Doch je mehr sich die Nebel der Überraschung lichten, desto mehr verblasst das „Wie bitte, Chemnitz?“ gegenüber einem „Na klar, Chemnitz!“ Und desto folgerichtiger und nachvollziehbarer erscheint das Votum der Jury. Denn gerade das Ringen um ihr Selbstbild könnte für den Einzug ins Finale den Ausschlag gegeben haben. Weil gerade darauf das Team Chemnitz in seiner Bewerbung gesetzt hat: auf den Wandel zur Stadt der Industriekultur, auf die damit verbundenen Umbrüche, auf die Suche nach der Identität einer ganzen Region. Und das bedeutet: das Beschreiten und Gestalten von Identitäts-Neuland – anders als bei Dresden und Zittau.

Image der Vielfalt statt der Einfalt

Chemnitz war so klug, mit Ferenc Csák einen erfahrenen Kulturhauptstadt-Manager an die Spitze der Bewegung zu setzen. Er hatte bereits 2010 den Job des Regierungsbeauftragten für Ungarns Kulturhauptstadt Pécs inne. Csák weiß also, wie man punktet und wie Juroren ticken. Tatsächlich ist es ihm gelungen, die Folgen von Chemnitz‘ jahrelang nur stiefmütterlichem Umgang mit seiner Kultur - außer der Industriekultur - in der Bewerbung zu überblenden. Vor allem durch den Schein seiner insgesamt 24 Kommunen integrierenden Strategie, mit der die historisch gewachsene Kulturregion des Erzgebirges neu definiert und gestaltet werden soll. 

Obwohl Chemnitz‘ Stadtgesellschaft sich immer noch ein wenig schwertut mit dem Mitgestalten: Die Jury scheint Csák und Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig zu glauben, dass sie das hinbekommen. Einen imposanten Beleg dafür hat die Stadt im Sommer bereits geliefert mit dem „Kosmos“-Festival. Bürger aus allen Bereichen haben daran mit- und letztlich bewirkt, dass Chemnitz sein Image der Einfalt nach den rechten Massen-Demos vom September 2018 in ein wenn auch noch nicht taghell leuchtendes, so doch immerhin zart blühendes Image der Vielfalt zu wandeln. Eine Vielfalt, die Chemnitz übrigens längst zur Sachsen-Metropole der Subkultur gemacht hat.

"Grenzübergreifend" zieht schon wieder nicht

Zittau und Dresden haben bei ihren Bewerbungen ebenfalls intensiv auf mehr Bürgerbeteiligung gesetzt; ein Alleinstellungsmerkmal, ein besonderer Push-Faktor war das also nicht. Wobei das kleine Zittau noch den charmantesten Zug aufs Gleis gestellt hat und per Bürgerentscheid über die Teilnahme am Wettbewerb abstimmen ließ, als erste Bewerberin um den Kulturhauptstadt-Titel überhaupt. Gut drei Viertel sagten damals Ja. Doch damit waren die Einwohner nicht aus der Verantwortung entlassen. Seit 1. Oktober ist mit "Herzidee" ein Portal online, auf dem Bürger ihre Ideen für die Kulturhauptstadt vorstellen und Netzwerke bilden können.

Seine vielfach als Nachteil gewertete Randlage krempelte Zittau kurzerhand in eine Tugend um. Es zog seine Bewerbung als Drei-Länder-Projekt auf und versprach, die längst schon intensiv praktizierten Bemühungen um grenzübergreifenden kulturellen Austausch noch zu intensivieren. Das aber scheint nicht genug gezogen zu haben. Womöglich hätte Zittau gewarnt sein können: Auch Nachbar Görlitz hatte sich 2006 gemeinsam mit seiner polnischen Schwesterstadt Zgorzelec beworben – und war gegen Essen unterlegen. Die Karte „Grenzüberschreitendes Projekt“ scheint mithin eher weniger zu stechen. Am Ende dürfte der Bürgerbeteiligungs- und Underdog-Bonus einfach zu schmal gewesen sein und vielleicht auch die Bewerbungsmappe zu konfus.

... aber wir sind doch schon Kulturhauptstadt!?

Die Kandidatin Dresden hatte ihr größtes Handicap klar erkannt und bei der Bewerbung auch benannt. Nämlich die oft gestellte Frage „Warum sollen wir uns für den Titel Kulturhauptstadt Europas bewerben? Das sind wir doch schon!“ Deshalb hatte das Team um den Theatermann und Kulturwissenschaftler Michael Schindhelm eine Leitfrage dagegen gestellt: Was außer unserem kulturellen Erbe, außer den Errungenschaften der Vergangenheit brauchen wir außerdem, um eine wirkliche Kulturmetropole zu werden? Interessante Frage, nicht zuletzt deshalb, weil sie in Dresden schon seit über 20 Jahren gestellt wird. Und sogar zu einem Kulturkonzept geführt hat, das bereits 2004 vom Stadtrat beschlossen, aber seither nur in Ansätzen umgesetzt wurde.

Insofern war die Bewerbung eine Art Zaubertrank. Er sollte den alten Plänen neue Kraft verleihen und Dresden unter dem Motto „Neue Heimat“ zum Modell für eine europäische Stadtgesellschaft werden lassen, in der trotz großer Umwälzungen ein friedliches und freiheitliches Miteinander möglich ist. Auch das wäre auf ein Umkrempeln des gegenwärtigen Images hinausgelaufen. Denn wie kaum eine andere Stadt in Europa steht Dresden im Fokus von politischen Veränderungen, Protesten und Diskussionen über grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens. Die Bewerber haben das entschlossen aufgegriffen und wollen die Reibungen in positive Energie umwandeln. Mithilfe von zahllosen Organisationen und Vereinen, auch und gerade im soziokulturellen Bereich.

Wenn der Streit zum Selbstzweck verkommt

Doch den großen Stolperstein mit der Aufschrift „Wir sind doch auch ohne Titel europäische Kulturhauptstadt“ hat Dresdens Bewerbungsteam nicht aus dem Weg räumen können. Die Zufriedenheit der Stadt mit den Schätzen der Vergangenheit und den Preziosen der Hochkultur ist offenbar nach wie vor so ausgeprägt, dass das Gros der Bürger keinen Anlass verspürt zu irgendwelchen tiefer greifenden Veränderungen. Geschweige denn zur aktiven Beteiligung daran. Wir finden's gut, und die Touristen kommen sowieso nur deswegen - diese Haltung bleibt für Dresden vorläufig prägend. 

Obendrein waren ebenso wie die hochintellektuelle Bewerbungsmappe die meisten der bisherigen Veranstaltungen anscheinend nicht anziehend genug gestaltet für ein wirklich gesellschaftsbreites Publikum. Andere wiederum haben nicht fingerspitzengefühlig genug auf Debatte und Streit gesetzt und brachten entweder progressive bis linke oder konservative bis rechte Bürger - oder beide Seiten - allzu hoch auf die Palme.

Ohnehin lässt sich das Bekenntnis zur Hauptstadt der Debatten und des Streits schwerlich als Potenzial nutzen, wenn das Debattieren und Streiten zum Selbstzweck gerinnt. Das aber ist bisher, mit wenigen Ausnahmen, die Dresdner Regel. Triebkraft aber entsteht daraus nur, wenn sich das Gegen- auch in ein Miteinander verwandeln lässt und dem Streiten das Versöhnen folgt. Oder, man ist ja in den letzten Jahren bescheiden geworden, zumindest eine Annäherung. Das ist grundsätzlich ein weiter, in Sachsens Landeshauptstadt sogar ein besonders langer und windungsreicher Weg. Jedenfalls zu lang für die Bewerbungsfrist des Wettbewerbs um den Titel als auch nominelle „Kulturhauptstadt Europas“. (mit bkl/fsp/mk)