Dresden/Meißen. Der Prozess gegen die mutmaßlichen Entführer der 17-jährigen Anneli-Marie ist mit der Vernehmung von Ermittlern fortgesetzt worden. Unter anderem ging es am Freitag vor dem Landgericht Dresden um die Stürmung der Dresdner Wohnung des 62-jährigen Angeklagten am Morgen des 17. August sowie um dessen Äußerung während der Vernehmung durch die Polizei.
Tag 1 im Anneli-Prozess
Dabei gelangten zwei unterschiedliche Einsatzberichte des Sondereinsatzkommandos (SEK) in die Gerichtsakten, die sich in einem wesentlichen Punkt unterscheiden. Die Vorsitzende Richterin sprach von einem „Unding“. Einmal hieß es, der mutmaßliche Täter sei „wach und munter“ gewesen, im zweiten Schreiben steht, er habe einen „benommenen Eindruck“ gemacht. Beide Schreiben stammen vom 6. April.
Der Unterschied ist insofern relevant, weil der Verteidiger des 62-Jährigen beantragt hatte, die viele Stunden dauernde Vernehmung seines Mandanten nach dessen Festnahme sei nicht verwertbar. K. sei völlig übermüdet gewesen. Das Schwurgericht hat sich noch nicht zur Frage der Verwertbarkeit geäußert.
Die Chronologie des Verbrechens
Doch von vorn: Vor Gericht wurden am Freitag Polizeibeamte gehört, die die Angeklagten Markus B. und Norbert K. als erste befragt haben. Zu Beginn des zweiten Prozesstages ging es jedoch um die Einwendungen des Anwalts Andrej Klein, der Norbert K. verteidigt.
Klein hatte eingewandt, dass die Aussagen seines Mandanten aus der zweiten Befragung nicht vor Gericht verwendet werden dürfen – unter anderem, weil K. 40 Stunden am Stück wach gewesen sein soll. Auch sei die vorläufige Festnahme rechtswidrig gewesen.
Die Staatsanwaltschaft reagierte auf den Einwand mit einer Stellungnahme: Es bestehe kein Verwertungsverbot, es seien ausreichend Pausen gemacht worden. K. sei gefragt worden, ob er zur Vernehmung im Stande sei und habe das bejaht. Er habe wach und konzentrationsfähig gewirkt. Auch auf sein Recht, sich einen Anwalt zu nehmen, sei er mehrfach hingewiesen worden. Die Antwort des Beschuldigten: „Wir können so weitermachen wie bisher, aber vor Gericht will ich einen Anwalt.“ Dass Norbert K. 40 Stunden nicht geschlafen habe, sei zudem nicht belegbar.
Auch die Festnahme habe nicht gegen Recht verstoßen, so die Staatsanwältin weiter. Man habe nicht wissen können, ob die Angeklagten den Unternehmer Uwe Riße weithin erpressen wollten und ob das Mädchen noch am Leben sei und wo es sich befinde.
Bei dieser Stellungnahme erfuhren die Zuschauer auch beiläufig, wie die Beamten vom Tod Annelis hörten: Norbert K. hatte Polizeibeamten in einer Raucherpause erzählt, dass das Mädchen nicht mehr am Leben sei.
Nach dem Vortrag der Staatsanwaltschaft und einer Stellungnahme des Nebenklägervertreters richtet die Richterin ein Wort an die Eltern der ermordeten 17-Jährigen. Diese hatten vor sich Bilder ihrer toten Tochter aufgestellt, wohl um die Angeklagten an sie zu erinnern oder ein Geständnis zu veranlassen. Das werde bei Gericht nicht so gehandhabt, so die Richterin, auch weil es letztlich nichts bringe. „Sie ändern dadurch nichts.“ Die Angeklagten wüssten, auch durch die Bilder in den Medien, wie schön ihre Tochter gewesen sei, und hätten gehört, welche Lücke im Leben der Eltern sie hinterlassen habe.
Anschließend verliest Anwalt Klein, Verteidiger von Norbert K., eine eigene Stellungnahme als Antwort auf die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft: Jemanden festzuhalten, „nur in der Hoffnung, noch etwas zu finden“, sei rechtswidrig. Dass durch seinen Mandanten Gefahr im Verzug gewesen sei, ist für ihn nicht nachvollziehbar. Er beantrage einen Gerichtsbeschluss in dieser Sache.
Während der noch aussteht, wurde ein erster Zeuge gehört: der Kriminalbeamte, der Norbert K. befragt hat. Immer wieder habe K. gesagt, dass er mit der Sache nichts zu tun habe. Auch dass DNA-Spuren seines Bekannten Markus B. Am Tatort gefunden wurden, konnte er sich nicht erklären.
Eine anwesende Beamtin fragte laut Protokoll einmal: Herr K., Sie machen einen verzweifelten Eindruck. „Sie werfen mir Sachen vor, die gar nicht stimmen“, soll er entgegnet haben. Der Eindruck des fragenden Kriminalbeamten: „Ich habe gemerkt, dass er etwas verheimlicht.“
K. habe jedoch nicht erwähnt, dass er zu diesem Zeitpunkt schon über 30 Stunden am Stück wachgewesen sei. K.s Anwalt hakt ein: „Hätte es Sie nicht hellhörig gemacht, wenn der Verdächtige gesagt hätte, er war nächtelang wach?“ Doch, gibt der Zeuge an, das hätte es wohl.
Danach wurde ein zweiter Polizeibeamter gehört. Er fuhr zur Vernehmung von Markus B. nach Burgebrach bei Bamberg. Als er ihm dort das erste Mal begegnet sei und ihn angesprochen habe, habe B. sofort begonnen zu weinen. „Sie sind der erste, der...“, verstand der Zeuge. Der Rest des Satzes ging im Schluchzen unter.
Der Beamte hatte während der gesamten Vernehmung den Eindruck, dass sich Markus B. ihm gleich öffnen und alles gestehen würde. Doch der Eindruck trog. B. gab an, zu der ganzen Sache nichts sagen zu können. Zu diesem Zeitpunkt wollten die Beamten Anneli noch immer finden, hatten Hoffnung, dass das Mädchen noch am Leben sei.
Als der LKA-Beamte B. fragte, ob er helfen könnte, das Mädchen zu finden, wurde der Verhörte „besonders redselig“: Er erzählte von seinen Kontakten ins Rockermilieu, von Hell’s Angels, Albanern, Russen. Er könnte sich ja mal in der Szene umhören. „Die Szene weiß alles, soll B. laut Protokoll gesagt haben.“
Zwischenzeitlich erfuhr der Beamte, dass ein zweiter Täter, Norbert K. gestanden habe, dass Anneli tot sei.
Zusammen mit Markus B. fuhr der Polizeibeamte daraufhin nach Dresden. Auf dem Sitz neben ihm sei B. sofort einschlafen und erst kurz vor DD wieder aufgewacht.
Nach der Mittagspause, der einzigem Pause an diesem langen Verhandlungstag, präsentierte die Richterin zunächst eine Lösung des SEK-Dilemmas: In der nächsten Sitzung soll ein Video des SEK-Einsatzes abgespielt werden.
Danach wurde ein weiterer Polizist an diesem zweiten Prozesstag gehört. Er hat die Befragung des Angeklagten K. geleitet. Weil es noch unklar ist, ob der Inhalt daraus vor Gericht verwendet werden darf, sollte der Beamte sich vorerst nur zu allem rund um die Befragung äußern, nicht aber zu inhaltlichen Details. Auch dieser Zeige betonte, dass K. zu keinem Zeitpunkt den Eindruck erweckt habe, mit der Befragung überfordert zu sein. Er sei außerdem umfassend über seine Rechte belehrt worden.
Auch Pausen habe der Mann machen dürfen. In einer solchen Pause zum Rauchen habe er dem Mann dann „bestimmte Sachen gesagt“. Gemeint ist, dass Anneli bereits tot ist sowie der Ort, an dem ihre Leiche liegt. Habe der Angeklagte K. anfangs „demonstrativ teilnahmslos“ gewirkt, sei er nach diesen Aussagen emotional aufgewühlt gewesen, habe geweint und geschluchzt und sich immer wieder von einer Tötungsabsicht freigesprochen.
Anschließend wurde ein letzter Zeuge hereingeführt – in Handschellen und unter Blitzlichtgewitter. Der Mann Ende 30 sitzt in der JVA Waldheim wegen Drogenhandels ein, fast vier Jahre hat er dafür gekriegt. Ausgerechnet der Dealer wird an diesem Verhandlungstag entscheidende Aussagen machen, um Norbert K. zu entlasten. Mit dem Angeklagten saß der Zeuge nämlich gut zwei Wochen in derselben Zelle, der Entführer von Anneli hat sich dem jüngeren Mann anvertraut.
In einem Brief an seine Mutter schreibt der Zeuge davon. „Er erzählte mir von der schrecklichen Tat. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Dass Menschen zu so etwas fähig sind...“ Er warnte seine Familie auch vor einem Einkauf bei Kaufland. Die Richterin fragt nach dem Grund dafür. Markus B. habe dort „Lebensmittel präparieren“ wollen.
K. habe ihm erzählt, es sei geplant gewesen, das Mädchen nach der Lösegeldzahlung freizulassen. Laut dem Zeugen sollte K. 400 000 Euro von der Gesamtsumme erhalten. Um die Konten im Ausland, von denen die Rede war, habe Markus B. sich gekümmert. „Er muss ziemlich überzeugend sein“, schätzt der Zeuge ihn ein. Er erzählt auch, dass eine Betäubung Annelis geplant war, nach der sie sich an nichts mehr erinnern konnte. Möglicherweise musste das Mädchen sterben, als der Betäubungsversuch missglückte.
Auch von dem Moment der Ermordung der jungen Frau habe K. ihm erzählt, berichtet der Zeuge. B. habe Norbert K. nachts angerufen und gebeten, zu ihm auf den Hof zu fahren, da er mit dem Mädchen alleine „nicht fertig wird“. Was genau gemeint ist, bleibt offen.
Vom Hof aus sei K. zu einer Tankstelle gefahren, um Getränke zu besorgen. Als er wiedergekommen sei, habe eine Tonne gebrannt - die Kleidung Annelis - und das Mädchen sei nackt und bereits tot gewesen. Norbert K. habe Markus B. dann beim Begraben geholfen, wobei es Streit um die Tiefe des Loches gegeben habe. Für K. habe es tiefer sein sollen, damit man die verwesende Leiche nicht riechen könne.
Ob B. der Bestimmer der beiden Komplizen gewesen sei, will das Gericht wissen. „Zu 100 Prozent“, sagt der Zeuge. „Wenn du solche Freunde hast, brauchst du keine Feinde.“
Die Staatsanwältin erhebt den Zweifel, ob der Zeuge nicht vielleicht die Akten Norbert K.s eingesehen und so zu diesem Wissen gekommen sein könnte. Doch der Mann verneint das und verlässt das Gericht unvereidigt und erneut in Handschellen. „Nicht jeder, der mal mit der Polizei spricht, ist auch ein Anscheißer“, gibt ihm die Richterin mit auf den Weg.
Die Verhandlung wird am 9. Juni fortgesetzt. Dann wird auch ein neuer Nebenkläger auftreten: Annelis Bruder. Ebenso wie seine Eltern und seine schwester wird er dann im Gerichtssaal Platz nehmen. Insgesamt hat das Gericht 15 Verhandlungstage angesetzt. Ende August soll das Urteil fallen.