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Falsche Corona-Fakten sind gefährlich

Bei Corona und Grippe werden Äpfel mit Birnen verglichen. Eine Replik auf Peter Dierichs Text von Mathematikern der TU Dresden.

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Ein Corona-Patient aus Frankreich ist auf dem Flughafen Dresden gelandet. Hierzulande wurden ähnliche Ausmaße bei der Pandemie vermieden.
Ein Corona-Patient aus Frankreich ist auf dem Flughafen Dresden gelandet. Hierzulande wurden ähnliche Ausmaße bei der Pandemie vermieden. © Ronald Bonß

Von Stefan Neukamm, Andreas Thom und Axel Voigt

Unter dem Titel „Falsche Panik vor Corona“ hat sich Professor Peter Dierich als Mathematiker in eine öffentliche Diskussion eingemischt. Seine Sichtweise leitet er aus einer statistischen Analyse ab, für die er seine Interpretation vorstellt. Dies erweckt selbstverständlich die Aufmerksamkeit der Kollegen vom Fach. Diejenigen, mit denen wir Gelegenheit hatten, uns auszutauschen, reagierten unisono mit einem erstaunten Kopfschütteln.

Das liegt nicht etwa daran, dass wir der Meinung wären, die Mathematik könne zur Corona-Diskussion nichts beitragen – im Gegenteil: Sie ringt an vorderster Front zusammen mit anderen Wissenschaftszweigen um ein bestmögliches und ganzheitliches Verständnis der Corona-Pandemie. Viele Publikationen in diesem Zusammenhang beinhalten auch Mathematik – nicht nur als statistische Analysen, sondern beispielsweise auch in Form mathematischer Modelle zur Prognose des Infektionsgeschehens.

Warum halten wir diese Art der Wortmeldung eines Kollegen für abwegig und gefährlich? Er kommt zu der politisch weitreichenden Schlussfolgerung: „Der Shutdown war ein nicht entschuldbarer ‚Fehlalarm‘.“ Und er begründet diese als Mathematikprofessor – wie die Untertitelung seines Artikels hervorhebt –, mit einer Argumentation, die wissenschaftlich nicht haltbar ist.

Es ist selbstverständlich legitim, die Frage zu stellen, ob auch weniger einschneidende Maßnahmen ausgereicht hätten, um in Deutschland eine größere Katastrophe zu verhindern. Aber selbst wenn man dies als Tatsache ansehen könnte – was es nicht ist –, widerspricht es jedem Prinzip der Logik, wie man hieraus einen „nicht entschuldbaren Fehlalarm“ ableiten kann. Schließlich stand dieser Rückblick Anfang März keinem Entscheidungsträger zur Verfügung. Das Argument ist von ähnlicher Qualität wie die Aussage: „Da ich bis jetzt nicht an Grippe erkrankt bin, war meine Grippeimpfung vor fünf Monaten überflüssig.“

Prof. Dr. Stefan Neukamm, geboren 1980, ist Professor für Angewandte Analysis an der TU Dresden und wurde 2014 als Open Topic Tenure Track Professor im Rahmen der Exzellenzinitiative berufen.
Prof. Dr. Stefan Neukamm, geboren 1980, ist Professor für Angewandte Analysis an der TU Dresden und wurde 2014 als Open Topic Tenure Track Professor im Rahmen der Exzellenzinitiative berufen. © Robert Lohse

Und auch die rückblickende Bewertung der Corona-Maßnahmen ist voller Tücken: Es handelte sich bei den Maßnahmen schließlich um ein einmaliges, nicht wiederholbares Ereignis. Daher kann man von einer rein statistischen Analyse keine Antwort erwarten – so wie es durch einen einmaligen Münzwurf nicht möglich ist, zu entscheiden, ob die Münze gezinkt oder fair war.

Auch ein naiver Vergleich der Zahlen zu Sterbefällen oder Infektionsraten (die wir nicht kennen) in Deutschland mit jenen in anderen Ländern wie Schweden läuft zwangsläufig auf einen Vergleich von Äpfeln mit Birnen hinaus – zu vielfältig sind die Gesundheitssysteme, die Bevölkerungsdichte, die Altersstrukturen usw., und zu nuanciert sind die verordneten Maßnahmen, die im Falle Schwedens neben freiwilligen Verhaltensänderungen der Bevölkerung beispielsweise auch die Schließung weiterführender Bildungseinrichtungen und Besuchsverbote in Alters- und Pflegeheimen beinhalten.

In einem andauernden Diskurs widmet sich die Wissenschaft dennoch genau dieser Frage. Wir verweisen in diesem Zusammenhang beispielhaft auf eine Publikation unserer Göttinger Kollegen, erschienen am 15. Mai 2020 in der angesehenen Zeitschrift Science. In dieser wird, basierend auf einem mathematischen Modell und statistischen Methoden, die Auswirkung der Interventionen der Bundesregierung auf die Infektionsraten in Deutschland untersucht. Die Studie zieht das Fazit, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit erst durch die dritte Stufe der Maßnahmen, die Kontaktbeschränkungen, das exponentielle Wachstum durchbrochen werden konnte.

Prof. Dr. Andreas Thom, geboren 1977 in Dresden, ist seit 2014 Professor für Geometrie an der TU Dresden. Gleichzeitig ist er wissenschaftlicher Direktor des Erlebnislandes Mathematik und Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft.
Prof. Dr. Andreas Thom, geboren 1977 in Dresden, ist seit 2014 Professor für Geometrie an der TU Dresden. Gleichzeitig ist er wissenschaftlicher Direktor des Erlebnislandes Mathematik und Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft. © TU Dresden

Auch dieses Fazit ist natürlich mit Vorsicht zu lesen: Zwangsläufig sind mathematische Modelle immer eine stark vereinfachte Beschreibung der Wirklichkeit, und zwangsläufig sind die uns zur Verfügung stehenden Daten mit Fehlern behaftet. Wie gehen seriöse Wissenschaftler mit diesen Unsicherheiten um? Sie benennen transparent und selbstkritisch die Annahmen und Grenzen ihrer Methoden, sie korrigieren sich, wenn neue Erkenntnisse auftauchen, und sie kennzeichnen Unsicherheiten in ihren Ergebnissen. Kurz gesagt: Sie geben keine einfachen Antworten, sondern liefern Aussagen, Zahlen und Fakten, die immer in einem Kontext gesehen werden müssen.

Im Gegensatz hierzu schreibt Herr Dierich gänzlich unkritisch: „Eines ist sicher, dass die in deutschen Medien immer wieder befürchtete Annahme, ohne Shutdown träte ein exponentielles Wachstum von Sterbefällen ein, nicht zutreffend war.“ Auch in seiner Argumentation folgt er nicht wissenschaftlichen Standards. In seinen Ausführungen zur „Gesamtzahl der Sterbefälle bis Mitte April“ vergleicht er beispielsweise Corona-Tote mit Grippe-Toten (der Vorjahre) – und damit eben „Äpfel mit Birnen“.

Er macht weiter die Beobachtung, dass die Gesamtzahl der Sterbefälle in den jeweils ersten dreieinhalb Monaten in 2020, verglichen mit den vier Vorjahren, am niedrigsten war und zeichnet hierdurch ein verzerrtes Bild: Die Daten wurden zwar aus einer seriösen Quelle, nämlich der „Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes vom 8. Mai 2020“, entnommen, aber eben nicht im Kontext präsentiert. Deutlich wird das durch die wissenschaftliche Auswertung derselben Daten durch die hauseigenen Experten, die zu einem ganz anderen Fazit kommen. Dies zeigt ein Blick in die Pressemitteilungen des Statistischen Bundesamtes und wird alleine schon durch deren Überschriften sichtbar: Pressemitteilung 8. Mai: „Sterbefallzahlen seit Ende März über dem Durchschnitt vergangener Jahre.“ Pressemitteilung 29. Mai: „Sterbefallzahlen im April 2020 acht Prozent über dem Durchschnitt der Vorjahre.“

Prof. Dr. Axel Voigt, geboren 1971, ist seit 2007 Professor für Wissenschaftliches Rechnen und Angewandte Mathematik an der TU Dresden und derzeit Dekan der Fakultät Mathematik.
Prof. Dr. Axel Voigt, geboren 1971, ist seit 2007 Professor für Wissenschaftliches Rechnen und Angewandte Mathematik an der TU Dresden und derzeit Dekan der Fakultät Mathematik. © privat

Herr Dierich hat als Gründungsdirektor der Hochschule Zittau/Görlitz sicherlich wichtige gesellschaftliche Beiträge geleistet und engagiert sich auch heute politisch, letztendlich müssen wir aber konstatieren, dass sich Professor Dierich den Vorwurf gefallen lassen muss, mit seinem Beitrag faktisch nicht belegbare Narrative zu bedienen, die in Kreisen der Corona-Skeptiker populär sind. Schwer wiegt hierbei, dass er sich explizit als Wissenschaftler in eine Diskussion eingemischt hat, zu der er aus unserer Sicht keinen wissenschaftlich Beitrag leisten kann.

Wissenschaftliche Erkenntnis ist kein subjektives Gut, über welches nach Belieben verfügt werden kann. Es entsteht in der aktiven Auseinandersetzung von Experten, die ihre Daten, Analysen und Interpretationen veröffentlichen. Es folgt eine Diskussion und Kritik, die Pluralität der Meinungen ist normal und trotzdem keine Einladung an jedermann, sich mit seiner persönlichen Meinung und notwendigerweise eingeschränkten Sichtweise an dieser Diskussion zu beteiligen.

Gerade jetzt, wo eine klare und unverzerrte Sicht auf die Lage notwendig ist und Fakten als Grundlage für verantwortungsvolles Handeln benötigt werden, sollten wir uns in Bezug auf die Prognosen des Infektionsgeschehens und der Auswertung und Interpretation statistischer Daten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie auf die Menschen verlassen, die sich damit wissenschaftlich beschäftigen und jahrelange Erfahrung haben. Wir können froh sein, dass wir hervorragende Wissenschaftler in Deutschland haben, die auf ihrem Arbeitsgebiet weltweit angesehen sind. Ihre Expertise wird uns und der Politik helfen, mit den Herausforderungen heute und in Zukunft umzugehen.

Eine Liste mit Unterstützern dieser Replik findet sich auf der Webseite der Fakultät Mathematik der TU Dresden

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.

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