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Falsche Panik vor Corona

Die deutschen Maßnahmen gegen das Virus waren übertrieben. Das zeigt die Statistik. Ein Gastbeitrag aus Sicht eines Mathematikers.

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War der von der Bundesregierung verfügte Shutdown ein nicht entschuldbarer „Fehlalarm“?
War der von der Bundesregierung verfügte Shutdown ein nicht entschuldbarer „Fehlalarm“? © dpa

Von Peter Dierich

Was ist gefährlicher: das Coronavirus oder die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus? Der Versuch einer Antwort auf diese Frage soll nicht aus medizinischer Sicht erfolgen, sondern eher aus statistischen Betrachtungen. Eine gegenwärtig häufig gestellte Frage ist: Was hat die Bundesregierung zu der Entscheidung veranlasst, einen Shutdown der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens, verbunden mit einer Einschränkung der Bürger- und Freiheitsrechte, in einem Maße zu verhängen, wie sie in manchen Teilen seit dem Mittelalter nicht bekannt war?

Die Bundesregierung war sich offensichtlich über die Tragweite ihrer Entscheidungen voll bewusst – und hat dies als größte Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Welche Erkenntnisse hatte sie? Zunächst war die Bundesregierung, wie viele andere (europäische) Länder, auf eine solche Pandemie nicht vorbereitet. Dies zeigte sich beispielsweise sehr leidvoll bei der fehlenden Schutzausrüstung für medizinische und pflegende Einrichtungen und bei den nicht ausreichenden Testkapazitäten. Ärmere asiatische Länder waren da wesentlich besser aufgestellt.

Es war aber bekannt, dass die Gefahr eines neuen Virus-Ausbruchs aufgrund der Globalisierung nicht nur auf Asien beschränkt bleiben würde. Am Rande sei nur erwähnt, dass genau diese fehlende Notfallplanung bei einer möglichen Pandemie bereits im Global Health Security Index von 2019 bemängelt wurde. Bei diesem Indikator landet Deutschland abgeschlagen auf dem 67. Platz, mit einem Score-Wert 12,5 von 100, was als Schulnote einer Sechs entspricht. Dies ist umso ärgerlicher, weil bei anderen, finanzintensiveren Indikatoren, wie der personellen Ausstattung der Krankenhäuser, das deutsche Gesundheitssystem sehr gut mit dem ersten Platz bewertet wurde.

Die Grafik zeigt die langgestreckte Grippewelle des Jahres 2017 und die massive Grippeepedemie des Jahres 2018 – aber nicht die Corona-Pandemie des Jahres 2020.
Die Grafik zeigt die langgestreckte Grippewelle des Jahres 2017 und die massive Grippeepedemie des Jahres 2018 – aber nicht die Corona-Pandemie des Jahres 2020. © SZ-Grafik

War es also diese Erkenntnis, schlecht vorbereitet auf die Pandemie zu sein, die zu dieser Überreaktion geführt hat? Zwei Fakten zeigen massiv, dass die Entscheidungen der Bundesregierung aus gegenwärtiger Sicht (und das soll ausdrücklich betont werden, vom jetzigen Kenntnisstand ausgehend) falsch und nicht zielführend waren sowie mit nicht übersehbaren medizinischen und wirtschaftlichen Folgen verbunden sind.

Zum einen zeigt das ein Vergleich der Zahl der (täglichen) Sterbefälle der letzten Jahre in Deutschland. Die oben stehende Grafik, erstellt aus den Daten einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes vom 8. Mai 2020, zeigt recht deutlich die langgestreckte Grippewelle des Jahres 2017 und die massive Grippeepedemie des Jahres 2018 – aber nicht die Corona-Pandemie des Jahres 2020. (Die Corona-Toten sind in der Statistik selbstverständlich enthalten.)

Es gab 2017 und 2018 keine derartigen radikalen Maßnahmen, man hatte die Grippewelle „hingenommen“. Dass die Daten nur bis 12. April reichen, liegt an der verzögerten Veröffentlichung des Statistikamtes. Die Zahl der Corona-Toten im weiteren zeitlichen Verlauf ist aber bekannt, sodass mit großer Sicherheit die Tendenz auch bis Mitte Mai erhalten bleibt. Sogar die Gesamtzahl der Sterbefälle bis Mitte April zeigt im Vergleich der Jahre 2017 bis 2020 den geringsten (!) Wert für 2020 auf: 284.522 Sterbefälle, im Vergleich zu 2018 im gleichen Zeitraum 311.982 Sterbefälle – also circa 27.500 Sterbefälle weniger.

Positive Wirkung des Shutdown nicht nachweisbar

Jetzt könnte man auf die positive Wirkung des Shutdowns verweisen. Dies ist statistisch aber nicht nachweisbar. Im Gegenteil, die Zahl der täglichen Corona-Toten ging bereits – wenn man die immer wieder betonte zeitliche Verzögerung der Wirkung der Maßnahmen berücksichtigt – vor Einleitung des Shutdowns zurück. Was erreicht wurde, ist die Abflachung (positive Wirkung) und die damit verbundene Streckung (eher negative Wirkung) der Infektionskurve. Die gewollte Wirkung muss aber gegen die Folgen des Shutdowns abgewogen werden. Dazu aber erst später.

Aus dem ersten Fakt, der Anzahl der Sterbefälle, kann kein objektiver Grund für den Shutdown in Deutschland abgeleitet werden, weder zum Zeitpunkt der Verhängung noch jetzt. Statistisch aussagekräftig ist ein zweiter Vergleich bei den unterschiedlichen Herangehensweisen der Regierungen verschiedener von der Corona-Pandemie betroffenen Staaten. Es werden bewusst drei extreme Reaktionen betrachtet: Taiwan mit gut vorbereiteten, sehr kurzem Shutdown (aber ohne Corona-App), Schweden quasi ohne Shutdown und Deutschland mit äußerst schlecht vorbereitetem und langem Shutdown.

Taiwan hat praktisch keine Corona-Toten (im gesamten Zeitraum: 7). Schweden hat sein lockeres Vorgehen über fast einen Monat mit der (bezogen auf die unterschiedlichen Einwohnerzahlen) circa dreifachen Anzahl der täglichen Toten „bezahlt“. Seit drei Wochen sinkt aber die Zahl der Sterbefälle wesentlich stärker als in Deutschland und hat gegenwärtig eine mit Deutschland vergleichbare Rate erreicht. Eines ist sicher, dass die in deutschen Medien immer wieder befürchtete Annahme, ohne Shutdown träte ein exponentielles Wachstum von Sterbefällen ein, nicht zutreffend war.

Dr. Peter Dierich, geboren 1942, ist emeritierter Professor für Mathematik und war von 1992 bis 2000 Rektor der Hochschule Zittau/Görlitz. Für die CDU saß er von 1990 bis 1994 im sächsischen Landtag. Nun gehört er zu den Kritikern der Corona-Maßnahmen aus
Dr. Peter Dierich, geboren 1942, ist emeritierter Professor für Mathematik und war von 1992 bis 2000 Rektor der Hochschule Zittau/Görlitz. Für die CDU saß er von 1990 bis 1994 im sächsischen Landtag. Nun gehört er zu den Kritikern der Corona-Maßnahmen aus © Rafael Sampedro

Aber welche Auswirkungen hat der Shutdown in Deutschland? Über die wirtschaftlichen Auswirkungen wird bereits relativ viel berichtet. Hier seien nur genannt: Zehn Millionen Kurzarbeiter, zusätzliche 400.000 Arbeitslose und Abermilliarden Euro Unterstützungsgelder, die nicht von der Regierung einfach geschenkt werden, sondern wieder erwirtschaftet werden müssen.

Genug der Zahlen! Noch nicht quantifizierbar, aber in der Negativwirkung fast noch schlimmer, sind medizinische Folgen aufgrund von Isolation und zerbrochener wirtschaftlicher Existenzen, die durch den Shutdown ausgelöst wurden und immer noch werden. Fast völlig ausgeblendet in der öffentlichen Wahrnehmung werden die durch den Shutdown ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen im zwischenmenschlichen Verhalten.

Jede Idealisierung des „social distancing“ ist zutiefst inhuman und gegen die menschliche Natur gerichtet. Ein Einknicken der Kirchen vor den Eingriffen des Staates in ihre eigentlich gesetzlich verankerten Rechte wird vermutlich nachhaltige Folgen für die Institution Kirche haben. Oder: Dass Denunzieren, wenn auch vermeintlich zu einem guten Zweck, wieder als hoffähig angesehen wird.

Wahrscheinlich muss die Gesellschaft grundsätzlich und völlig neu darüber nachdenken, wie man gegenwärtig und zukünftig mit solchen Pandemien leben kann oder muss. Mit Sicherheit dürfen dabei aber Angst und Panik kein getreuer Berater sein. Alle diese Entwicklungen kann man zusammenfassend nur so bewerten, dass der Shutdown, der von der Bundesregierung verfügt wurde, ein nicht entschuldbarer „Fehlalarm“ war!

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.

Zu diesem Beitrag ist hier eine Replik von drei Mathematik-Professoren der TU-Dresden erschienen. Auf diese Replik hat Prof. Dierich mit einem offenen Brief geantwortet, den wir hiermit im Wortlaut dokumentieren. Die darin genannten Schaubilder können auf Anfrage über die Redaktion bezogen werden: [email protected]


Sehr geehrte Herren Neukamm, Thom und Voigt,

es war mir durchaus klar, dass ich Widerspruch zu meinem Artikel „produzieren“ könnte, weil er absolut nicht in den Mainstream passt. Was mich nur verwundert, dass Sie an keiner Stelle bezüglich der Fakten auf einen Fehler aufmerksam machen.Ich nehme zwar an, dass die Überschrift „Falsche Fakten sind gefährlich“ nicht von den Autoren, sondern von der Redaktion stammt (Übrigens wurde die fragende Überschrift zu meinem Artikel „Was ist gefährlicher: das Corona-Virus oder die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus ?“ von der Redaktion unabgestimmt zu „Falsche Panik zu Corona“ gemacht.)

Mit dem Begriff „falsche Fakten“ kann ich nichts anfangen. Die für die Argumentation benutzten Zahlen sind aus offiziellen Statistiken, eben Fakten, die zwar unbequem, aber nicht falsch sein können

Klar widersprechen muss ich Ihnen bei folgenden Aussagen:

- Die Göttinger Studie liefert eben keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Wirkung eines Shutdowns und der Ansteckungshäufigkeit sondern interessante Modelle für das Ausbreitungsgeschehen unter verschiedenen theoretischen Annahmen.

- Angehängt ist ein Schaubild, dass nach Daten des Robert-Koch-Institutes erstellt wurde, dass das progressive Verhalten der Ausbreitung des Virus in Deutschland bereits am 05.03.20 endet, also ca. 4 Wochen vor den Wirkmöglichkeiten des Shutdowns. Ergänzend soll nur bemerkt werden, dass (ebenfalls nach Daten des RKI) der Reproduktionsfaktor R0 bereits ab 21.03.20 unter 1 lag. Dies sind alles Tatsachen, die die Frage „Was ist gefährlicher: das Corona-Virus oder die Maßnahmen zur Bekämpfung“ wohl mehr als berechtigt erscheinen lassen, sowohl hinsichtlich der medizinischen, bildungspolitischen als auch wirtschaftlichen Folgen.

- Logisch völlig unverständlich ist Ihre Argumentation, dass ich bezüglich des Vergleiches der Zahl der Sterbefälle der Jahre 2017 bis 2020 nur die ersten dreieinhalb Monate verwende (im Anhang ist auch das auf fast viereinhalb Monate fortgeschriebene Schaubild, mit den tendenziell gleichen Aussagen), während Sie im gleichen Atemzuge eine Auswertung des Statistischen Bundesamtes erwähnen, die sich auf eine Aussage von höchstens einen Monat bezieht (in der ersten Fassung sogar nur auf eine Woche !). Dieses zweifelsfreie unwissenschaftliche Vorgehen bezeichnen Sie als „wissenschaftliche Auswertung“. Das erscheint sehr befremdlich.

- Es ist nicht nachvollziehbar wie Sie Angehörigen der im Jahre 2018 an Grippe Verstorbenen den Unterschied („Äpfel und Birnen“) zu den Corona-Toten erklären wollen.Es gab 2018 mehr als dreimal so viele Grippe-Tote wie bis zum jetzigen Zeitpunkt Corona-Tote, trotz Grippe-Schutzimpfung ! Dieser Sachverhalt ist fundamental.

Gestatten Sie mir noch drei Anmerkungen:

1. Es wäre vielleicht fair, wenn Sie auf der Homepage der Fakultät Mathematik meine Erwiderung an Ihre Darstellung anhängen würden.

2. Ich werde diesen Brief auch Herrn Thielking von der SZ zur Kenntnis geben und mit der Bitte versehen, eine geeignete Möglichkeit zu suchen, meine Erwiderung zu veröffentlichen.

3. Rein persönlich: Ich habe an keiner Stelle gegenüber der SZ die ehemalige Mathematikprofessur erwähnt. Das einzige Indiz kann in der Formulierung im Artikel liegen, dass „der Versuch einer Antwort auf diese Frage nicht aus medizinischer Sicht erfolgen soll sondern eher aus statistischen Betrachtungen (dies entspricht auch dem ehemaligen Berufungsgebiet des Autors).“ Dies diente ausdrücklich der Abgrenzung, keine medizinischen Ausführungen halten zu können und auch nicht zu wollen …

Mit freundlichen Grüßen

gez. Peter Dierich