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Die "Tatort"-Doppelfolge "Nichts als die Wahrheit" ist großartiges Fernsehen

Die Polizei, dein Rassist und Helfer: Corinna Harfouch folgt auf Meret Becker als Berliner "Tatort"-Kommissarin. Dabei enttäuscht nur eines: der Titel.

Von Oliver Reinhard
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Da darf man ruhig mal von einem Traumpaar sprechen: Als neues Berliner „Tatort“-Team ergänzen sich Corinna Harfouch und Mark Waschke prächtig.
Da darf man ruhig mal von einem Traumpaar sprechen: Als neues Berliner „Tatort“-Team ergänzen sich Corinna Harfouch und Mark Waschke prächtig. © rbb/ARD

Immer wieder wurden Corinna Harfouch Rollen als TV-Kommissarinnen angetragen. Nur ein einziges Mal hat sie zugesagt, dem Privatsender Sat.1 für „Blond: Eva Blond!“, vor 20 Jahren war das. „Mir macht alles Angst, bei dem ich mich festlegen muss“, sagte die Schauspielerin in einem Interview mit der Sächsischen Zeitung.

Doch da hatte sie dem Buhlen des RBB längst nachgegeben und eingewilligt, Meret Becker nach dem gewaltsamen Ableben „ihrer“ Hauptkommissarin Nina Rubin zu folgen und an der Seite von Marc Waschke alias Robert Karow an der Spree böse Jungs und Mädels zu jagen.

Nur der einfaltspinselige Titel stimmt nicht

Nicht wenige Fans des Hauptstädter Teams waren skeptisch: Eine fast 70-jährige Dame anstelle des hibbeligen Nervenbündels Rubin, die so bisexuell und borderlinig wie Karow und Berlin und eben deswegen so beliebt war? Corinna Harfouch selbst fand das „Tatort“-Angebot „fast schon ein bisschen lustig, weil ich doch schon 67 bin. Und dann krauche ich auf die Straßen Berlins und jage Verbrecher.“ Was sie letztlich überzeugt hat: „Wir haben ein sehr gutes Konzept. Ich bin sehr, sehr zufrieden damit, was da entwickelt wird.“

Bei der zu Ostersonntag und -montag punktgelandeten Doppelfolge „Nichts als die Wahrheit“ stimmt nur der einfaltspinselige Titel nicht. Alles andere fügt sich zu einem 170-Minüter, der alles hat, was ein Krimi-Großereignis braucht. Einen großartigen Inhalt, eine famose Regie, ausgezeichnete Bilder und ein ungleiches Paar, das auf Anhieb derart gut miteinander harmoniert, dass man die arme Nina Rubin fast gar nicht vermisst.

Die wäre wahrscheinlich sofort ausgeflippt, wenn sie das gesehen hätte: Ohne irgendeinen Anlass kontrollieren Schutzpolizistinnen und -polizisten auf einem Spielplatz einen jungen Schwarzen. Sie gehen ihn körperlich an, provozieren ihn, bedrohen ihn, bis der Junge flieht und die Panik ihn direkt vor ein Auto treibt. Eine der Polizistinnen ist entsetzt, sucht später telefonisch Hilfe bei ihrer ehemaligen Ausbilderin an der Polizeischule, blitzt ab – und liegt am nächsten Morgen mit einem Einschussloch in der Schläfe auf ihrem Sofa. Es sieht nach Selbstmord aus. Aber auch Susanne Bonard (Corinna Harfouch), Ex-LKA-lerin und jene Dozentin, die das Opfer abends zuvor hat abblitzen lassen, bezweifelt das. Recht bald stellt sich heraus: Es war Mord. Geschehen vor den Augen des Sohnes der Polizistin, der seither nicht mehr spricht.

Schrecklich nah an der Realität

„Es ist größer, als ich gedacht hatte“, waren die letzten Worte des Opfers an Bonard. Mit ähnlichen Worten droht auch der Polizeikollege der Toten und Patenonkel ihres Sohnes dem Witwer, als er von diesem verlangt, Unterlagen der Ermordeten zu suchen und herauszurücken. Offenbar hatte sie Material gesammelt, um es gegen die eigenen Leute zu verwenden. Was Bonard und Karow Schritt für Schritt herausfinden, ist wirklich größer als vermutet. Schrecklich groß. Und schrecklich realitätsnah.

Von der Ausbilderin zur Ermittlerin: Susanne Bonard (Corinna Harfouch) ermittelt im Fall einer jungen Schutzpolizistin, die sich das Leben genommen hat .
Von der Ausbilderin zur Ermittlerin: Susanne Bonard (Corinna Harfouch) ermittelt im Fall einer jungen Schutzpolizistin, die sich das Leben genommen hat . © rbb/ARD

Es geht um ein reales Problem: Rassismus und Rechtsextremismus in den Reihen der Polizei. Das ist keine Kleinigkeit, auch wenn diverse Politiker das Thema gern kleinreden wollen. Von Sommer 2018 bis Mitte 2021 zählte der zweite Lagebericht „Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden“ rund 860 Verdachtsfälle. Das geht von extremistischen Chatgruppen über Racial Profiling, Misshandlungen, Waffenhorten, Bildung umstürzlerischer Gruppen bis hinein in die Reichsbürger-Szene, auch die sächsische. Davon handelt der erste Fall von Susanne Bonard und Robert Karow.

„Von Anfang an wollten wir mehr erzählen als die klassische Mordermittlung eines ‚Tatorts‘,“ erklärt Drehbuchautorin Katja Wenzel. „Einen Politthriller, der die Fragen stellt: Was passiert, wenn wir die Augen verschließen vor einem schleichenden rechtsideologischen Umbau unserer Gesellschaft?“ Mitautor Stefan Kolditz, der als Regisseur schon diverse „Tatorte“ sowie den Zweiteiler „Dresden“ und die Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“ verantwortet hat, ergänzt: „Haben wir uns längst an demokratiefeindliche Narrative gewöhnt? Wer sind überhaupt wir? Wer dann die anderen?“

Unaufhörlich vibriert der Spannungsbogen

Unter den souverän inszenierenden Händen von Robert Thalheim – das Team versammelt wirklich nur Spitzenpersonal – kommt eine Geschichte in Gang, die sich bestens über zwei Abende verteilt und dem Ensemble Raum gibt, um ausgesprochen entspannt und smart seine Rollen zu gestalten. Der Spannungsfaden hört nicht auf zu vibrieren. Mal heftiger, mal sanfter, aber immer spürbar. Das ist dramaturgisch eine stramme Leistung. So unaufdringlich und abseits jeglichen Verdachts auf „Pädagogik“ wie hier wurde selten eine Nebenerzählung in Sachen „Flucht und Migration“ eingefügt.

62 Jahre ist Susanne Bonard. Eigentlich hat sie sich nur für diesen einen Fall von der Polizeischule ins LKA versetzen lassen. Aber am Ende könnte sie sich doch vorstellen, noch ein Weilchen zu bleiben, zurück auf die Straßen Berlins zu krauchen, Verbrecher zu jagen. Karow freut das; er kann halt kalt sein wie ein Spree-Aal. Wem er bisher zu sehr auf gequälte Seele und Hang zum Exzess geeicht war, dem könnte der neue Cop gefallen. An der Seite von Bonard wirkt der harte Hund etwas ruhiger und sanfter. Das ist glaubwürdig.

Was Susanne Bonard betrifft: Ein paar Jahre bis zum Ruhestand hat sie noch. Nach „Nichts als die Wahrheit“ darf man sich darüber ungetrübt freuen.