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Spart euch Netflix: Wie ARD und ZDF ihr Serien-Angebot aufrüsten

Millionen Deutsche berappen Millionen für Netflix & Co. Doch die Streaming-Angebote von ARD und ZDF werden mit Thrillern, Dramen und Comedy immer besser.

Von Oliver Reinhard
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in der schwedischen Mystery-Serie "White Wall" entdeckt Magnus (Mattias Nordkvist) eine weiße Wand in den Stollen eines Atommüll-Endlagers. Je länger er an ihr bohrt, desto mehr verändert er sich. Bald gibt es erste Tote.
in der schwedischen Mystery-Serie "White Wall" entdeckt Magnus (Mattias Nordkvist) eine weiße Wand in den Stollen eines Atommüll-Endlagers. Je länger er an ihr bohrt, desto mehr verändert er sich. Bald gibt es erste Tote. © Arte

Anfangs ist sie kaum daumennagelgroß, die mysteriös weiße glatte Stelle mitten in einer schwarzen Felswand auf 700 Metern Tiefe. Doch von Tag zu Tag wird sie größer und mysteriöser. Und zu einem monströsen Problem. Denn in Kürze sollen die Stollen eines ehemaligen Erzbergwerks im Norden Schwedens ihrer neuen Bestimmung zugeführt werden, sie sind als Endlager für Atommüll vorgesehen. Das Projekt ist spektakulär, irrsinnig teuer und international begehrt als Ausweg für das größte Problem der Atomwirtschaft.

Verständlich also, wenn Politik, Unternehmensführung und selbst das Sprengteam unter Tage unruhig werden. Verständlich vor allem für schwedische Zuschauer der Mystery-Serie „White Wall“, denn vor allem sie wissen, dass der Anteil der Kernkraft am Strommix Schwedens 40 Prozent beträgt. Soll der Zeitplan der Fertigstellung und damit womöglich das ganze Unterfangen samt nationaler Energieversorgung nicht gefährdet werden, muss der Stollen weitergebohrt werden. Obwohl die weiße Wand im Fels immer größer wird. Obwohl sich Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, seltsam verändern. Und obwohl es bald erste Tote gibt ...

Ein Journalist (Ulrich Thomsen) erfährt über eine Stimme auf seiner Mailbox, dass die Anruferin seine Tochter ist. Sofort eilt er zurück in seine alte Heimat. Doch dort findet er seine Tochter im Meer - ermordet. Wer hat die Umwelt-Aktivistin getötet? "Tr
Ein Journalist (Ulrich Thomsen) erfährt über eine Stimme auf seiner Mailbox, dass die Anruferin seine Tochter ist. Sofort eilt er zurück in seine alte Heimat. Doch dort findet er seine Tochter im Meer - ermordet. Wer hat die Umwelt-Aktivistin getötet? "Tr © Arte

Wer Serien-Qualität will, muss dafür nicht extra zahlen

„White Wall“ hat alles, was eine solche Serie zum Erfolg braucht. Ein überzeugendes aktuelles (seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine erst recht) und noch nicht ansatzweise totgenudeltes Thema, ein mysteriöses Geheimnis, ein großartiges Setting, famose Charakterstudien von der Umwelt-Aktivistin bis hin zu ihrem Gegenspieler, dem Sicherheitschef, und durchweg ausgezeichnete Schauspieler. Für die Väter der Story, Aleksi Salmenperä und Mikkö Pöllä, war die Geschichte mehr als naheliegend: Beide sind Finnen, und auf der finnischen Insel Olkiluoto wurde das weltweit erste Endlager ins Gestein gebohrt.

Neben seiner hohen Qualität mit enormem Spannungsfaktor beweist „White Wall“ exemplarisch zweierlei: Es braucht erstens nicht zwingend den immensen Aufwand solcher Streaming-Giganten wie Netflix oder Disney, um in der Königsdisziplin – den Serien – ansehnliche Konkurrenzprodukte auf den Weltmarkt zu bringen. Was zweitens klar wird: Wer hochwertige und abwechslungsreiche Serienkost mag, und das werden immer mehr, ist längst nicht mehr auf Bezahl-Abos von Netflix, Disney, Amazon & Co. angewiesen. Denn Deutschlands öffentlich-rechtliches Fernsehen investiert einen Teil des den Bürgerinnen und Bürgern abverlangten Beitragsgeldes seit Jahren in die Bestückung seiner Mediatheken und bietet inzwischen – fast – alles, was das Herz begehrt. Wie eben „White Wall“ bei Arte.

Im packenden britischen Spionage-Thriller "Vigil" kommt es zu einem Todesfall auf einem Atom-U-Boot. Eine Polizistin soll ihn aufklären und kommt einer internationalen Verschwörung auf die Spur sowie weiteren Toten. Das ZDF hat "Vigil" im digitalen Angebo
Im packenden britischen Spionage-Thriller "Vigil" kommt es zu einem Todesfall auf einem Atom-U-Boot. Eine Polizistin soll ihn aufklären und kommt einer internationalen Verschwörung auf die Spur sowie weiteren Toten. Das ZDF hat "Vigil" im digitalen Angebo © ZDF

Auch auf den Färöern und den Lofoten wird gemordet

Ganz weit vorne in den Regalen stehen dem Massengeschmack entsprechend Krimis als Film und Serie, am allerweitesten solche aus Skandinavien. Darunter ist viel dröge Dutzendware, aber auch manche Perle. Etwa „Trom – Tödliche Klippen“ (Arte) über den Mord an einer jungen Umweltschützerin, der erste Krimi, der auf den Färöer-Inseln entstand. Oder das Bruder-Drama „Twin“, gedreht auf den Lofoten; zum Glück ist der Norden so groß und variabel, dass es nicht immer Wallanders Ystadt und Südschweden sein müssen.

Wie „Twin“ findet man „Vigil“ beim ZDF, und weil es ebenfalls um gewaltsame Ableben geht, muss auch hier einer dieser einfaltspinseligen Untertitel her: „Tod auf hoher See“. Wobei „... in hoher See“ besser passte – der klaustrophobische Thriller spielt an Bord eines britischen Atom-U-Bootes. Nervig nur: Es dauert, bis man in den Mediatheken das Passende gefunden hat; technologisch hinken ARD und ZDF der großen Konkurrenz noch meilenweit hinterher.

1940 erobert die Deutsche Wehrmacht auch Norwegen, und Kronprinzessin Märtha flieht in die USA, wo sie Asyl im weißen Haus erhält. Präsident Roosevelt will die USA aus dem Krieg heraushalten. Märtha hält das für falsch. "Atlantic Crossing" heißt die Serie
1940 erobert die Deutsche Wehrmacht auch Norwegen, und Kronprinzessin Märtha flieht in die USA, wo sie Asyl im weißen Haus erhält. Präsident Roosevelt will die USA aus dem Krieg heraushalten. Märtha hält das für falsch. "Atlantic Crossing" heißt die Serie © ARD

Noch steckt die digitale Plattform in ihren Babysöckchen

Doch das soll sich ändern, es ist sogar schon da, das lange geforderte gemeinsame Streaming-Netzwerk. Noch steckt es eher in Babysöckchen als in Kinderschuhen, aber ein Anfang ist gemacht. Eine große Mediathek ist nicht mehr das Ziel, vielmehr eine gemeinsame Plattform, auf der das Publikum zudem miteinander und den Betreibern kommunizieren kann. Eine Art öffentlich-rechtliches Soziales Netzwerk sozusagen, mit europaweiten Verflechtungen und Material-Lieferanten.

ARD, ZDF und die Beitragszahler lassen sich diese Transformation einiges kosten. Das Erste hat bereits 150 Millionen pro Jahr aus dem linearen Programm mit festen Sendezeiten ins digitale verschoben, wo man alles sehen kann, wann immer man möchte. Für weitere 250 Millionen soll bis 2028 neue Nahrung für Streamingfans entwickelt werden.

Die Titelheldin von "Lamia" (Amel Charif, 2. v. r.) ist 25 Jahre alt, Deutsch-Algerierin in Berlin und will von zu Hause ausziehen, weil sie mehr Platz und mehr Freiheit braucht. Aber eigentlich sucht sie "nur" den richtigen Umgang mit Familientraditionen
Die Titelheldin von "Lamia" (Amel Charif, 2. v. r.) ist 25 Jahre alt, Deutsch-Algerierin in Berlin und will von zu Hause ausziehen, weil sie mehr Platz und mehr Freiheit braucht. Aber eigentlich sucht sie "nur" den richtigen Umgang mit Familientraditionen © ARD

Täglich streamen sich über zwei Millionen durch die ARD

Kein Luxus, vielmehr Überlebensstrategie: Die Zuschauer des linearen Fernsehens werden immer weniger, die des digitalen immer mehr. Die Zielgruppe der Streaming-Offensive sind konsequenterweise die 19- bis 49-Jährigen. Immerhin die Suchfunktionen sind inzwischen auch in den Mediatheken verbessert worden.

Mittlerweile ist die ARD-Mediathek mit ihrem Angebot an Filmen, Serien und Dokumentationen das reichweitenstärkstes Streaming-Angebot aus Deutschland mit täglich über als zwei Millionen Nutzern, darunter freilich auch etliche Tagesschau- und heute-Nachseher. Zum Vergleich: 2021 gab es knapp zehn Millionen Netflix-Abos in Deutschland. Da geht noch was. Muss es auch.

"It's A Sin" (es ist eine Sünde) erzählt von einer queeren Freundesclique im London der Achtziger. Lange leugnen sie, dass Aids eine große Gefahr für sie ist. Bis einer nach dem anderen krank wird und stirbt. Die bewegende BBC-Serie ist beim ZDF im Angebo
"It's A Sin" (es ist eine Sünde) erzählt von einer queeren Freundesclique im London der Achtziger. Lange leugnen sie, dass Aids eine große Gefahr für sie ist. Bis einer nach dem anderen krank wird und stirbt. Die bewegende BBC-Serie ist beim ZDF im Angebo © ZDF

Eine Berlinerin, ihre algerischen Eltern und die Freiheit

Dafür sollen Prestigeprojekte sorgen wie das Geschichtsdrama „Atlantic Crossing“, ein Historiendrama über die Flucht der norwegischen Kronprinzessin 1940 vor der NS-Okkuppatoren nach Washington ins Weiße Haus. Und „Cry Wolf“ über ein Paar, dessen 14-jährige Tochter in einem Schulaufsatz Szenen häuslicher Gewalt schildert, worauf Lehrerschaft, Jugendamt und Polizei das Leben der Eltern in einen Albtraum verwandeln.

Dass auch die Serien-Zeichen auf wachsende Diversität stehen, hat die ARD natürlich längts begriffen und bedient das Genre entsprechend. Die jüngsten Produktionen sind die Serie „Ethno – Made by RebellComedy“ über ein Comedy-Talent, dessen Migrationshintergrund für ihn zum Türöffner wird, und „Lamia“, deren 25-jährige Berliner Titelheldin gegen ihre algerischen Eltern um mehr Freiheit kämpft.

"The Paradise" setzt auf viktorianischen Downton-Abby-Charme. Doch die Serie aus der ZDF-Mediathek erzählt statt von Adeligen vor allem von Denise (Joanna Vanderham) und der Belegschaft eines Kaufhauses, ihren Freuden, ihren Leiden, ihren Intrigen.
"The Paradise" setzt auf viktorianischen Downton-Abby-Charme. Doch die Serie aus der ZDF-Mediathek erzählt statt von Adeligen vor allem von Denise (Joanna Vanderham) und der Belegschaft eines Kaufhauses, ihren Freuden, ihren Leiden, ihren Intrigen. © ZDF

Gehobene britische Unterhaltung jenseits "Downton Abby"

Obwohl es kleiner als das Erste ist, hat das ZDF in der Kategorie „Besonderes“ derzeit die Zunge vorn. Überaus beeindruckend und bewegend ist die britische Serie „It’s A Sin“, die anhand einer queeren Freundesclique mit viel Zeitkolorit erzählt, wie Aids in den Achtzigern nach London und Europa kam. Taschentücher sollten bereitliegen, denn es ist ziemlich mitnehmend, wenn man im Laufe der Folgen sieht, wie die Freunde die Gefahr ignorieren und kleinreden, bis es zu spät ist, einer nach dem anderen erkrankt, dann stirbt.

Spannend, wenn auch – beinahe – ohne Mord und Totschlag und Krankheiten kommt die britische Historiendramaserie „The Paradise“ aus über ein Kaufhaus in einer britischen Kleinstadt in den 1870ern. Die beiden Staffeln zielen auf gehobene Unterhaltung und treffen ins Herz. Gekonnt geht es endlich mal nicht um parasitäre Adeligen in Downton Abby und ähnlichen Landsitzen, stattdessen um Verkäuferinnen, Lageristen, Schneider, Intrigen, Liebe, Freundschaft. Ein Sehvergnügen mit genug Anspruch und Klasse, dass man sich seiner Freude am sacht sentimentalen und sanft soapigen „The Paradise“ nicht schämen muss.

Falls Sie doch einmal von jemandem darauf schräg angesprochen werden nach dem Motto "Ach, sowas guckst du?", dann sagen Sie einfach: „Die Serie beruht auf dem Roman ,Das Paradies der Damen‘ von Émile Zola. Der Name sagt dir doch was?“