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Von Auschwitz bis Ostritz: Der "Mythos SS" lebt

Die Mär von der „Elite des Führers“ ist immer noch lebendig, auch in Sachsen. Eine neue ZDF-Dokumentation geht dagegen an.

Von Oliver Reinhard
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Links SS-Männer der besonders brutalen "Brigade Dirlewanger", rechts ein Ordner beim "Schild und Schwert"-Festival im sächsischen Ostritz mit dem Symbol der Brigade, den gekreuzten Handgranaten.
Links SS-Männer der besonders brutalen "Brigade Dirlewanger", rechts ein Ordner beim "Schild und Schwert"-Festival im sächsischen Ostritz mit dem Symbol der Brigade, den gekreuzten Handgranaten. ©  AP/dpa

Bis die Bürger von Ostritz vor einigen Jahren mit zahllosen Gleichgesinnten dem Spuk ein Ende machten, wurde der kleine Ort an Sachsens Ostgrenze regelmäßig von einem Neonazi-Festival und Tausenden Fans aus allen Himmelsrichtungen heimgesucht. Das Rechtsrock-Event hieß „Schild & Schwert“ – eine eindeutige und doch versteckte Anspielung. Nicht, wie es scheinbar offenkundig war, auf die Staatssicherheit der DDR, die sich selbst als „Schild und Schwert der Partei“ bezeichnet hatte.

Entscheidend waren vielmehr die Initialen des Festivalnamens: SS. Nicht nur in ihren schwarzen, mit Frakturschrift und Runen übersäten Aufmachungen würdigten die Besucher die nationalsozialistische „Schutzstaffel“, Hitlers ideologische und kämpferische Elite, eine massenmörderische und kriegsverbrecherische Organisation. Auch in Ostritz zeigte sich so, wie langlebig und lebendig der Mythos SS heute noch ist. Doch die Vorstellung von einer „Elite“ war schon im „Dritten Reich“ ein Zerrbild.

Groß, stark, überzeugte Nationalsozialisten: Die SS-Männer sollten Musterbeispiele für den "Arier" sein.
Groß, stark, überzeugte Nationalsozialisten: Die SS-Männer sollten Musterbeispiele für den "Arier" sein. ©  AP/dpa

Die Männer der "Schwarzen Korps" als Sinnbild des „Ariers“

Eine „Elite“ bildete die SS zwar im Ideologischen – alle Mitglieder waren 100-prozentige Nationalsozialisten und wurden in Schulungen bis zur Gehirnwäsche radikalisiert. Ebenso bildete sie die Funktionselite schlechthin bei der Organisation des KZ-Systems, von Massen- und Völkermord. Sämtliche Hauptverantwortliche wie Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann waren in der SS. Aber womit sich Neonazis bis heute identifizieren, mit der SS als Krieger-Elite, das war und bleibt ein Mythos.

Von Kriegsbeginn an gingen die bewaffneten Verbände der SS extrem draufgängerisch und lebensverachtend vor und begingen dabei schlimmste Kriegsverbrechen. Doch waren sie – bis auf die Panzerverbände – zumeist stümperhaft befehligt und schlecht organisiert und hatten eben deshalb auch ungeheuer hohe Verluste. Das ist eine der überraschenderen Erkenntnisse aus der Dokumentation „Die SS – Macht und Mythos“ von Gabriele Rose, Alexander Hogh und Carsten Binsack. ZDF-Info strahlt den Sechsteiler ab diesem Sonntag im linearen Fernsehen aus und stellt sie in der Mediathek bereit.

Die SS stellte die meisten "Sonderkommandos", die hinter der Ostfront wie hier 1942 in der Ukraine Massaker und Massenmorde an der Zivilbevölkerung begingen, hauptsächlich an Juden.
Die SS stellte die meisten "Sonderkommandos", die hinter der Ostfront wie hier 1942 in der Ukraine Massaker und Massenmorde an der Zivilbevölkerung begingen, hauptsächlich an Juden. © AKG Images

Einwandfreie "Rassekriterien" mussten erfüllt sein

Mithilfe von Originalaufnahmen, alten Zeitzeugeninterviews, Erklärungen von internationalen Expertinnen und Experten sowie ergänzt um animierte Szenen schildert „Die SS“ die Geschichte der Organisation von deren Anfängen als eine Art Personenschutz des „Führers“ alias „Leibstandarte Adolf Hitler“ bis in die letzten Kriegsmonate, als vielfach Hitlerjungenverbände kollektiv zwangsrekrutiert und verheizt wurden. Die letzte Folge thematisiert die strafrechtliche Verfolgung von SS-Mitgliedern in der Nachkriegszeit Ost und West.

Nach dem Willen von ihrem „Reichsführer“ Heinrich Himmler sollte die SS eine Auslese von den „Besten der Besten“ des Volkes respektive der arischen Rasse sein. Abgesehen von den nominellen Mitgliedern mussten die hauptamtlichen einwandfreie „Rassekriterien“ erfüllen – auch deren Ehefrauen – und körperlich wie ideologisch streng auf Linie sein. Eben eine Elite.

Die berüchtigtsten SS-Befehlshaber waren der "Reichsführer" Heinrich Himmler (l.) und Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes. Als Heydrich 1942 in Prag einem Attentat zum Opfer fiel, wurden zur Vergeltung zwei Dörfer ausgelöscht und die B
Die berüchtigtsten SS-Befehlshaber waren der "Reichsführer" Heinrich Himmler (l.) und Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes. Als Heydrich 1942 in Prag einem Attentat zum Opfer fiel, wurden zur Vergeltung zwei Dörfer ausgelöscht und die B ©  AP/dpa

Herrinnen und Herren über die Konzentrationslager

Das lockte unzählige junge Männer an, und nach der Marginalisierung der einst mächtigen und dominanten paramilitärischen Schlägertruppe SA im Jahr 1934 wuchs die zuvor vergleichsweise kleine SS auf ein Vielfaches ihrer Personalstärke. Schon seit 1933 stellte sie die besonders auf Härte und Unbarmherzigkeit gedrillten KZ-Wachmannschaften, die später auch auf die großen Vernichtungslager verteilt wurden.

Doch als seit dem Überfall auf Polen die Verluste durch todesverachtendes Draufgängertum und kämpferische Mängel explodierten, senkte man die Zugangsbeschränkungen. Nun konnte im Prinzip jeder Freiwillige zur SS, das körperliche Niveau sank ebenso wie der durchschnittliche Bildungsgrad. Ob in Polen, Frankreich, Russland: „Das schwarze Korps“ beging ungleich mehr Verbrechen an Gefangenen und Zivilisten als die Wehrmacht, die Massenhinrichtungen hinter der Ostfront waren fast komplett Sache der SS.

Unter den SS-Wachmannschaften der SS in den Konzentrationslagern waren auch tausende Frauen.
Unter den SS-Wachmannschaften der SS in den Konzentrationslagern waren auch tausende Frauen. © AKG Images

„Ich will nicht klagen, ich bin gerne SS-Mann gewesen“

Dennoch behielten deren Kampfverbände eine gewisse Anziehungskraft. Nicht zuletzt deshalb, weil sie bei der Ausrüstung mit neuesten Waffen wie den besonders schlagkräftigen Panzern gegenüber der Wehrmacht bevorzugt wurden. Die erschütterndsten Höhepunkte der Dokumentation markieren einige der Kinder- und Frauenschlächter, die viele Jahrzehnte nach Kriegsende zu ihrer Zeit in der SS befragt wurden. „Wir hatten halt Befehle, die Juden mussten doch weg“, sagt einer. Und ein anderer: „Ich will nicht klagen, ich bin gerne SS-Mann gewesen.“

Groß geworden und sozialisiert in radikalisierten Zeiten, durch Nationalsozialismus und SS noch zusätzlich charakterlich deformiert; ein Erklärungsansatz, mehr nicht. Wie tief die menschlichen Abgründe in der SS reichten, illustrieren die Folgen über Reinhard Heydrich und Heinrich Himmler besonders grell: kalte Fanatiker, glühende Ideologen, bedingungslose Karrieristen und im Wortsinn Menschlichkeit und Menschen verachtend.

Vor fast 60 Jahren begann in Frankfurt am Main der erste Auschwitzprozess. Auch die DDR-Justiz war daran beteiligt. Doch insgesamt kamen die meisten Verbrecher aus den Reihen der SS straffrei davon.
Vor fast 60 Jahren begann in Frankfurt am Main der erste Auschwitzprozess. Auch die DDR-Justiz war daran beteiligt. Doch insgesamt kamen die meisten Verbrecher aus den Reihen der SS straffrei davon. ©  AP/dpa

Die meisten SS-Männer und -Frauen blieben unbestraft

Insgesamt 800.000 Männer und Frauen dienten in der SS, die Hälfte davon waren Verbände von Freiwilligen aus anderen Ländern wie Belgien, Holland und Norwegen. Lediglich 14.000 ehemalige SS-Männer und -Frauen standen nach 1945 vor Gerichten in West und Ost. Knapp die Hälfte wurde für ihre Taten verurteilt. Die meisten erhielten Gefängnisstrafen zwischen sechs und zwölf Monaten, nur wenige sehr viel mehr. Das Gros selbst der Schwerverbrecher kam ungeschoren davon. Etliche flohen nach Südamerika, teils mithilfe alter SS-Kameraden, teils mit Unterstützung der Kirche.

Einige wie Klaus Barbie, Gestapochef von Lyon, arbeiteten vorübergehend sogar für den Geheimdienst CIC der USA. 1983 wurde er von Bolivien an Frankreich ausgeliefert, dort angeklagt und verurteilt. Die Bundesrepublik hatte Barbie nicht haben wollen. Weil der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl ein Wiederaufflammen der Schulddebatte um Kriegsverbrechen vermeiden zu müssen glaubte. Für viele Neonazis von heute bleibt auch Klaus Barbie ein „Held“ und „Märtyrer“.