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Warum die Altnazi-Serie "Bonn" der ARD so gut ist

Hitler und die Wirtschaftswunderkinder: Der öffentlich-rechtliche Sechsteiler ist als Politthriller bestes Historienkino mit Lern-Mehrwert.

Von Oliver Reinhard
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Toni Schmidt (Mercedes Müller) wird zur rechten Hand von Geheimdienstchef Reinhard Gehlen (Martin Wuttke, M.). Weil der versucht, NS-Verbrecher zu schützen, spioniert Toni ihn aus.
Toni Schmidt (Mercedes Müller) wird zur rechten Hand von Geheimdienstchef Reinhard Gehlen (Martin Wuttke, M.). Weil der versucht, NS-Verbrecher zu schützen, spioniert Toni ihn aus. © Foto: ARD/Odeon Fiction/Zuzana Panskágrammdirektion

Sie wirken derart streng auf Antipoden getrimmt, dass man sie für Kunstfiguren aus der Drehbuchschmiede halten könnte: Otto John, ehemaliger Widerstandskämpfer der Gruppe um Hitler-Attentäter Stauffenberg, und Reinhard Gehlen, einst ranghoher NS-General im Geheimdienst des „Führers“. Jetzt, im Handlungsjahr 1954 der ARD-Serie „Bonn“, stehen sie sich als erbitterte Kontrahenten gegenüber.

John ist oberster Verfassungsschützer der jungen Bundesrepublik und hat die alten Nazi-Seilschaften im Visier. Gehlen ist ein Teil und Profiteur davon und Chef der Organisation Gehlen, Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes BND. Der eine will Kriegsverbrecher wie den ehemaligen SS-Führer und Eichmanns rechte Hand Alois Brunner schnappen, der andere sie davor schützen und ihnen die Flucht ermöglichen.

Altnazi-Geheimdienstler gegen Antinazi-Geheimdienstler

Das klingt einigermaßen simpel auf Gut-Böse herunterklischiert; Historienkino für die Massen halt. Aber der Sechsteiler „Bonn – Alte Freunde, neue Feinde“ von Hauptautorin und Regisseurin Claudia Garde, dessen finale Folgen am Dienstag ausgestrahlt werden, bleibt bei allen dramaturgischen Zuspitzungen weitgehend auf dem Fakten-Teppich. So sehr, dass sich manch historisch weniger einschlägig vorgebildeter Zuschauer verwundert die Augen reiben dürfte: Altnazi-Geheimdienstler gegen Antinazi-Geheimdienstler – gab es das wirklich?

Ja, das gab es. Und Garde macht daraus einen fast rundum gelungenen Historien-Politthriller. Ein TV-Ereignis, das zugleich einen großen Reiz ausübt als Sittenbild der frühen Bundesrepublik und deren massiv schuld- und verantwortungsbeladener, tief traumatisierter und entsprechend verdrängungssüchtiger Bevölkerung.

Otto John (Sebastian Blomberg) ist der erste Verfassungsschutz der Bundesrepublik, ehemaliger Hitler-Gegner und Nazi-Jäger. Für ihn spioniert Toni dessen Widersacher Gehlen aus.
Otto John (Sebastian Blomberg) ist der erste Verfassungsschutz der Bundesrepublik, ehemaliger Hitler-Gegner und Nazi-Jäger. Für ihn spioniert Toni dessen Widersacher Gehlen aus. © ARD Das Erste

Einschlägig belastet, aber nützlich im Kalten Krieg

Hilfreich beim Verdrängen war der ökonomische Aufschwung, das „Wirtschaftswunder“, ermöglicht vor allem durch westliche Finanzhilfe. Man blickte nach vorne, in die mutmaßlich strahlende Zukunft. Tatsächlich ging es überall aufwärts – nicht zuletzt, weil der Adenauer-Staat erheblich auf die alten Funktionseliten des Nationalsozialismus‘ setzte, in den Verwaltungen, in der Justiz, den Universitäten, sogar in der Politik.

Natürlich wurde auch brav entnazifiziert. Aber bei Weiten nicht in dem umfassenden Maß, das nötig gewesen wäre. Selbst der NS-Gegner Adenauer setzte auf Vorbelastete sogar in höchsten Ämtern, und „Bonn“ zeigt ebenfalls, was gerade in der DDR jeder wusste: Gehlens Schutzpatron im Ministerrang und ehemaliger Chefkommentator der Nürnberger „Rassegesetze“ Heinrich Globke war in SED-Propaganda und Stabü-Unterricht eine feste Größe.

Alte Kameraden waren in der BRD 1954 ziemlich sicher

Auch Gehlen wurde gebraucht, der ehemalige Chef der NS-Aufklärung „Fremde Heere Ost“ war ein Kenner der Sowjetunion und als solcher für den Westen unverzichtbar im Kalten Krieg gegen Stalins angeschwollenes Imperium. Dass „Bonn“ als Politthriller so gut funktioniert, liegt neben dem Können Claudia Gardes als Regisseurin und Autorin vor allem an den beiden Köpfen der Handlung und deren Darstellern, an Sebastian Blomberg als Otto John und Martin Wuttke als Reinhard Gehlen.

Wieder einmal zeigen die beiden in ihrem nuancierten Spiel, dass und warum sie zu den Besten ihres Fachs gehören und Klischees nicht ihr Ding sind. So mischt Blomberg John auch Züge einer latenten Eitelkeit bei und lässt dessen Gerechtigkeitswillen immer wieder an der Selbstgerechtigkeit entlangschrammen. Wuttke zügelt seinen Hang zum Over-Acting aufs Angenehmste, er macht Gehlen als blasierten Zyniker greifbar, der sich in der Bundesrepublik des Jahres 1954 sehr sicher fühlen und immerhin gelegentlich gleichwohl auch menschliche Wärme ausstrahlen kann.

Wolfgang Berns (Max Riemelt, l.) ist der beste Agent von Verfassungsschutz-Chef John. Doch es ist nicht klar, für wen der Ex-SS-Mann wirklich arbeitet.
Wolfgang Berns (Max Riemelt, l.) ist der beste Agent von Verfassungsschutz-Chef John. Doch es ist nicht klar, für wen der Ex-SS-Mann wirklich arbeitet. © ARD Das Erste

Ein "Frollein" zwischen Familienmensch und Nestflüchtling,

Die spürt vor allem Toni Schmidt (Mercedes Müller), 20-jährige Tochter eines alten Vertrauten von Gehlen und nicht gewillt, sich in die Ehe- und Hausfrauenrolle zu fügen. Nach einem Au-pair-Jahr in England ist sie in der Sprache fit genug, um von ihrem Vater bei Gehlen als Dolmetscherin empfohlen zu werden. Sie bekommt den Job, was sie als möglichen Maulwurf interessant macht für Gehlens Gegenspieler Otto John, der seinen Agenten Wolfgang Berns (Max Riemelt) auf Toni ansetzt, um sie anzuwerben.

Sind Gehlen und John die Köpfe der Geschichte, ist Toni deren Herz. Eine junge Frau, der alle Sympathien der Zuschauerinnen und Zuschauer zufliegen, eine mit ihrem „emanzipatorischen“ Wesen bis hinein in die Sprache im Heute bestens greifende fiktive Filmfigur. Mercedes Müller siedelt sie an zwischen Familienmensch und Nestflüchtling, zwischen der Liebe zu Vater, Mutter, Schwester und dem Unbehagen, das sie zwischen ihnen angesichts der Schmidt’schen Clan-Geschichte empfindet – und sie letztlich zur Agentin werden lässt.

Die Familie als Sittengemälde der alten Bundesrepublik

Eben diesem Familien-Erzählstrang verdankt „Bonn“ seine Stärke als Sittenbild. Zugleich ist er die Achillesferse der Serie, weil sich in ihr möglichst viel Typisches der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft widerspiegeln soll; eine nicht eben leichte Bürde. Einerseits ist das enorm erzählstark und illustrativ. So ist der Vater zwar selbst durch seine Vergangenheit extrem kontaminiert, Gehlen-Helfer und sogar Waffenschieber für eine – samt Fackelzug etwas hollywoodesk erdachte und präsentierte – Altnazi- und Ex-SS-Organisation.

Aber familiäre Liebe und Fürsorge sind echt und aufrichtig, ebenso das Leiden an den Verwerfungen mit Tochter und Gattin. Jürgen Maurer nutzt als Gerd Schmidt seine große Chance: Maurers Spiel in der wohl komplexesten und womöglich auch schwierigsten in den Griff zu kriegende Rolle von „Bonn“ geht buchstäblich unter die Haut.

Familienoberhaupt Gerd Schmidt (r.) hat eine braune Weste und ist bereit, die junge Bundesrepublik an Altnazis zu verraten. Jürgen Maurer macht aus dieser schwierigen und kontroversen Rolle ein Glanzlicht.
Familienoberhaupt Gerd Schmidt (r.) hat eine braune Weste und ist bereit, die junge Bundesrepublik an Altnazis zu verraten. Jürgen Maurer macht aus dieser schwierigen und kontroversen Rolle ein Glanzlicht. © ARD Das Erste

Ein Schwiegersohn wie aus Großmutters Bilderbuch

Dass die Serie ausgezeichnet ausgestattet, bebildert und beleuchtet ist, gehört längst zum Standard des Genres. Dass sie bis in viele Nebenfiguren hinein sorgsam gearbeitet ist, ist schon weniger selbstverständlich. Ingrid Schmidt (Luise von Finkh) kommt daher als Gegenstück zu ihrer Schwester Toni, lebenslustig, alles Dunkle ausblendend, ein Musterkind der Generation Schlussstrich. Aber Claudia Garde denunziert sie ebenso wenig als Charakter-Leichtgewicht wie Tonis Verlobten Hartmut (Julius Feldmeier).

Der hat den richtigen Geschäfts-Riecher, verkauft Fernseher, kann sich ein Auto leisten und einen Bauplatz und kommt umso weniger damit klar, dass Toni immer weniger so tickt, wie er sich das von seiner Zukünftigen erhofft. Was Hartmut zwar traurig macht, aber da wäre ja noch Ingrid, und man muss schließlich nach vorne schauen … Allerdings werden gerade im Hause Schmidt auch die Untiefen von „Bonn“ sichtbar.

Der jüdische Geliebte muss auch noch mit rein

Dass ein ehemaliger jüdischer Geliebter von Mutter Else (Katharina Marie Schubert) und Vater ihres im Krieg gefallenen Sohnes ins repräsentativ sein sollende BRD-Sittenbild gequetscht wird, gehört zu den aufdringlicheren und überdies weniger nötigen Zutaten der Serie. Das gibt Katharina Marie Schubert zwar ausgiebig Gelegenheit zum Glänzen und illustriert, wie tief und nachhaltig der Antisemitismus in vielen Menschen weiterhin eingeschrieben blieb. Es zeigt aber zugleich den Drehbuch-Hang zur Überfrachtung der Familie.

In jedem Fall hinnehmen muss man auch, dass Tonis Haltungswandel zwar glaubwürdig erzählt und von Mercedes Müller souverän nachempfunden wird, ihr Spionagenaturtalent aber doch etwas üppig ausfällt: Als Maulwurf ist Toni gewissermaßen von null auf 100 so gottbegnadet, wie Mozart es am Klavier war. Und die Liebesgeschichte zwischen ihr und Johns undurchsichtigem Agenten Berns – nun ja, auch ein schwer auf historische Authentizität setzendes Historiendrama wie diese Serie muss sich dramaturgischen Notwendigkeiten fügen. Ein kleines bisschen „Bond“ in „Bonn“ schadet da nicht weiter.

Die letzten beiden Teile der Serie laufen am Dienstag ab 20.15 Uhr im Ersten. Alle Teile sind zudem jederzeit in der ARD-Mediathek abrufbereit.