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Tödlicher Schuss in Freital führt in die Neonazi-Szene

Ein 20-Jähriger hat in Freital wohl versehentlich seinen Zwillingsbruder erschossen. Die Familie ist der Polizei aus dem Rechtsextremisten-Milieu bekannt.

Von Tobias Wolf
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Für den erschossenen 20-jährigen Jean N. haben Bekannte in Freital einen Trauerplatz am Tatort eingerichtet.
Für den erschossenen 20-jährigen Jean N. haben Bekannte in Freital einen Trauerplatz am Tatort eingerichtet. © xcitepress

Freital. Grablichter flackern auf den Stufen vor der Haustür an der Dresdner Straße im Freitaler Stadtteil Potschappel. Jemand hat Rosen hingelegt, ein ausgedrucktes Foto in einem Bilderrahmen zeigt einen 20-Jährigen. Drei junge Männer stehen davor, diskutieren. Weitere kommen dazu, eine Frau mit Kinderwagen. Auch sie haben Blumen mitgebracht. „Scheiße“, sagt einer.

Erst am Abend vorher ist der Platz zum Trauerort geworden. In den sozialen Netzwerken Instagram und Facebook trauern Dutzende um den Toten.

Dienstag, gegen 17.30 Uhr: Einsatzfahrzeuge der Polizei, darunter gepanzerte Jeeps stehen mit blinkendem Blaulicht vor dem Haus. Polizisten mit schusssicheren Westen und eine schwer bewaffnete Sondereinheit sichern die Umgebung und dringen in das Gebäude ein. Mehrere Rettungswagen und die Feuerwehr fahren vor.

Beim Polizeieinsatz am Dienstagabend in Freital fuhr auch die Sondereinheit "Lebensbedrohliche Einsatzlagen" vor.
Beim Polizeieinsatz am Dienstagabend in Freital fuhr auch die Sondereinheit "Lebensbedrohliche Einsatzlagen" vor. © xcitepress

Kurz zuvor war ein Notruf eingegangen. Ein junger Mann bittet um ärztliche Hilfe wegen einer Schussverletzung. Als die Beamten die Wohnung betreten, finden sie den schwer verletzten 20-jährigen Jean N., seinen Zwillingsbruder Jason und eine Pistole. Jean wird in ein Krankenhaus gebracht, Jason festgenommen.

Nur wenige Stunden später erliegt Jean seinen Verletzungen. Der Schuss hatte ihn im oberen Bereich des Oberkörpers getroffen. Polizisten verhören noch in der Nacht Jason N., er steht im Verdacht, seinen Bruder erschossen zu haben. Am Mittwochvormittag wird er auf freien Fuß gesetzt.

Ermittlungen wegen Totschlags

Die Ermittlungen gegen den Bruder wegen des Verdachts des Totschlags sind nach Angaben der Polizeidirektion Dresden zwar nicht abgeschlossen. „Jedoch sieht die Staatsanwaltschaft Dresden derzeit keinen dringenden Tatverdacht“, so ein Sprecher.

Offenbar hat sich eine Tragödie ereignet, deren Ausmaß nur langsam klar wird. Jason N. hat seinen Bruder wohl unter unglücklichen Umständen erschossen, jedoch bisher ohne nachweisbare Tötungsabsicht.

Die Zwillinge hatten trotz ihres jugendlichen Alters bereits mehrfach mit der Justiz zu tun. Sie gelten als rechtsmotivierte Täter, die bisher nach Jugendstrafrecht beurteilt wurden. Alle Verfahren gegen den verstorbenen Jean N. seien wegen seines Alters eingestellt worden, sein Bruder hatte für Körperverletzung, Diebstahl und Propagandadelikte Arbeitsauflagen zu erfüllen.

Die jungen Männer hatten offenbar beide in der Wohnung mit der Waffe hantiert, wobei sich der Schuss versehentlich gelöst haben könnte. Einen Streit oder andere Auseinandersetzungen soll es nicht gegeben haben.

Menschen, die beide kennen, berichten davon, dass sie sich gut verstanden haben sollen, ein „Herz und eine Seele“ gewesen seien. Fotos in sozialen Netzwerken deuten ebenfalls darauf hin.

Die Waffe soll nach Zeugenangaben eine „scharfe Waffe“ gewesen sein. Die Polizei bestätigt das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. Aus Sicherheitskreisen heißt es, auch Schreckschusswaffen könnten schwere Verletzungen hervorrufen, wenn sie nah am Körper abgefeuert würden.

"Söhne mit Neonaziideologie vergiftet"

Offen ist, ob die Waffe Sascha N., dem 41-jährigen Vater der Zwillinge gehörte. Polizisten durchsuchten nach dem tödlichen Schuss die Wohnung des Vaters in der Pestalozzistraße im Freitaler Stadtzentrum und vernahmen den Mann. Dort fanden sie ein Luftdruckgewehr, Patronen und einen Schalldämpfer. Sascha N. muss sich nun wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz verantworten.

Sascha N. betreibt in der Nähe des Tatortes ein Tattoo-Studio, das wegen der Corona-Verordnung derzeit geschlossen, sonst aber auch eine Art Begegnungsort ist. Normalerweise sitzen Tätowierer und Kunden oft vor dem Studio und rauchen. Mitunter parkt dort dann auch ein älterer VW Passat-Kombi, bei dem die Typenbezeichnung am Heck fehlt – bis auf das „SS“ in der Mitte.

Nach Angaben von Vertrauten hätten sich die Brüder Jean und Jason N. gemeinsam mit dem Vater seit 2015 rund um die Anti-Asyl-Proteste in Freital „engagiert“. In diesem Umfeld hatte sich auch die Terrorgruppe Freital radikalisiert. „Bei ausländerfeindlichen Sachen waren die immer ganz vorn mit dabei.“

Ein Zeuge sagt: „Der Vater hat seine Söhne mit seiner Neonaziideologie vergiftet.“ Mit Jean N. habe es ausgerechnet den Vernünftigeren getroffen.

Vater spielt in Neonazi-Band

Der Vater der Zwillinge, der noch einen weiteren Sohn haben soll, wird der Freitaler Neonaziszene zugeordnet. Er soll Mitglied der Freitaler Rechtsrockband „Stahlwerk“ sein, die – ebenso wie ihre Plattenfirma Opos Records – vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft ist.

Die Band hat vor ein paar Jahren eine CD auf den Markt gebracht, auf deren Cover ein Panzerkommandant der Waffen-SS abgebildet ist. Außerdem soll N. Verbindungen in die Rockerszene haben.

Die Zwillinge Jason und Jean, ihr Vater Sascha N. und sein mutmaßlich dritter Sohn beim von der NPD organisierten "Thüringentag der nationalen Jugend" 2016 in Sömmerda.
Die Zwillinge Jason und Jean, ihr Vater Sascha N. und sein mutmaßlich dritter Sohn beim von der NPD organisierten "Thüringentag der nationalen Jugend" 2016 in Sömmerda. © Mario Bialek

Auch mit der rechtsextremistischen Musikgruppe „Sachsenblut“ ist Sascha N. aufgetreten. Zu den Konzerten nahm er schon früh seine Kinder mit. Fotos zeigen ihn und seine damals etwa 16-jährigen Zwillinge 2016 beim „Thüringentag der nationalen Jugend“ in Sömmerda, der von der NPD organisiert wird.

Verfassungsschützern zufolge gab es weitere Konzerte unter Beteiligung der beiden Bands in Tschechien und im nordsächsischen Torgau.

Am Mittwoch fuhren erneut Polizeiautos auf der Dresdner Straße vor. Die Spurensicherung der Kriminalisten nimmt Zeit in Anspruch, ebenso die Suche nach möglichen Zeugen. Auf Facebook hat eine Frau geschrieben: „Ich hoffe, dass Sascha N. ni zusammenbricht.“

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