Boom bei Schönheits-OPs: "Spritze, Spritze, Spritze, Geld, Geld, Geld"
Der Markt für künstliche Schönheit wächst rasant. Deutsche lassen sich am dritthäufigsten spritzen, OPs nehmen zu. Auf Antwortsuche in OP-Saal und auf Instagram.
Ein elektrisches Zischen, es riecht nach Grill. Haut weicht, darunter prangt rotes Fleisch aus einem Schlitz. Stefan Passin legt das Laser-Skalpell zur Seite, das geschnitten und verödet hat. „Das hier ist ein gutes Beispiel für die Natürlichkeit in Dresden“, sagt er.
Ein Donnerstagmorgen im Januar, beleuchtete A-Körbchen-Brüste ragen aus einer blauen OP-Decke wie eine Sonneninsel aus dem Ozean. Passin steckt seine Gummihandschuh-Finger in den Schlitz unter der Brust. Mit einer Pinzette schiebt er Gewebe beiseite, eine Assistentin tupft ab.
Passin betreibt eine Praxis für plastisch-ästhetische Chirurgie am Schillerplatz. In den großzügigen Räumen mit Dielenböden und bunten Gemälden berät und behandelt er. An Operationstagen mietet er sich in einen Saal im Dresdner Westen ein.
„Wir sind in Sachsen sehr auf Natürlichkeit bedacht. In Düsseldorf oder München sind die Implantate im Schnitt 100 Milliliter größer.“ Seine Patientinnen wollen meist 250 bis 350 Milliliter große Implantate. „Das macht es einfacher, als wenn wir 400er-Implantate in eine zierliche Patientin reinwürgen müssten.“
"Wenn du beim Bachelor ohne Dekolleté aus der Limousine steigst, kann du gleich wieder einsteigen"
Die Patientin auf dem OP-Tisch will ein pralles B-Körbchen. 285 Milliliter Silikon. Eine Assistentin öffnet ein violettes Päckchen mit Schnörkeln, greift eine Plastikschale, die wie eine überdimensionierte Kontaktlinsen-Packung aussieht.
Das Implantat schwimmt in einer antibiotischen Flüssigkeit. Die Silikon-Halbkugel fällt in eine Plastikhülle, die an eine Spritztüte für Torten erinnert. Konditorinnen malen Kringel, Passin spritzt ein Implantat in die Brust. Er näht den Schlitz zu, schneidet Fäden ab.
Im Radio läuft „Prisoner“ von Miley Cyrus und Dua Lipa, die Griffe wirken routiniert und unaufgeregt. Assistentinnen plaudern, während sie blutgetränkte Tupfer in den Müll werfen. Schönheitsoperationen sind Routine. Der Trend geht zu immer auffälligeren Ergebnissen.
„Wenn du beim Bachelor im Fernsehen ohne Dekolleté aus der Limousine steigst, kannst du auf der anderen Seite gleich wieder einsteigen“, sagt Passin.
90 Prozent Patientinnen Frauen, 80 Prozent Ärzte Männer
In der Statistik der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie führen Brustvergrößerungen 2022 bei jüngeren Patientinnen das Ranking an. Von den 18- bis 40-Jährigen hat sich rund ein Fünftel Implantate einsetzen lassen. Viele lassen sich ihre Brüste straffen, mit Eigenfett vergrößern oder verkleinern.
„Manche leiden richtig, kriegen Nacken- und Rückenschmerzen vom Gewicht“, sagt Passin. Neulich hat er pro Seite 1,7 Kilo abgenommen. „Und die Brüste waren immer noch riesig.“ Rund 90 Prozent der Patientinnen in Deutschland waren 2022 Frauen. Gut 80 Prozent der Ärzte Männer.
Stefan Passin hat seine Praxis 2018 eröffnet. „Ich wollte immer was Chirurgisches machen“, sagt der 42-Jährige. Es macht Spaß. Auch wenn man ab und zu spezielle Patienten hat, die einem den letzten Nerv rauben mit falschen Erwartungshaltungen.“
"Sieben Liter Fett absaugen macht kein glattes Bein"
Von Fett, zum Beispiel. „Sieben Liter absaugen macht kein glattes Bein. Das bleibt wellig. Menschen haben total falsche Vorstellungen, was wir mit unserem Handwerk leisten können.“
In der Statistik der internationalen Gesellschaft für ästhetisch-plastische Chirurgie stieg die Anzahl von Eingriffen in vier Jahren um ein Drittel. 2021 gab es global gut 12,8 Millionen Operationen, 17,5 Millionen non-operative Eingriffe. Beide haben zugenommen, Letztere gut 54 Prozent.
Auf dem Ranking der Injektionen hat Deutschland sich mit mehr als einer halben Million Behandlungen 2021 auf Platz drei hochgespritzt, nur in den USA und Brasilien haben sich mehr Menschen Botolinumtoxin, Hyaluron oder Calcium injizieren lassen.
Das Risiko von Botolinumtoxin, besser bekannt als Botox, schätzt die Europäische Arzneimittelbehörde geringer ein als das von Aspirin. Stefan Passin widerspricht Gerüchten wie einer gesteigerten Demenz-Wahrscheinlichkeit: „Würde Botox dement machen, wüssten manche Patienten ihren Namen nicht mehr.“
Massenhaft neue Kundinnen dank Corona-Pandemie
Philipp Triemer lebt von non-operativen Eingriffen. Zu Beginn der Pandemie bangte er, dass Patienten ausbleiben könnten. „Ich bediene einen Luxussektor“, sagt der gelernte Narkosearzt, der im edleren Teil der Dresdner Neustadt sitzt. „Wenn man spart, dann an Luxus.“ Es kam anders. „Der Fokus hat sich viel auf das Selbst gelegt. Nicht zuletzt, weil viele im Homeoffice waren.“
In Videokonferenzen sahen Menschen sich ständig selbst. Oft von unten, unvorteilhaft belichtet. „Das hat Bedürfnisse geweckt.“ Für Reisen oder Konzerte konnten Leute ihr Geld nicht ausgeben. „Gewaltig zugenommen haben Behandlungen der Zornesfalte. Dann der Doppelkinnregion. Und die Augenregion ist noch mehr in den Fokus gerutscht.“ Auch weil Masken Nase und Mund verdeckten.
Mit Ästhetik habe Triemer schon immer arbeiten wollen, begann den Facharzt für Dermatologie. „Aber im klinischen Alltag sieht man ständig entzündliche Hauterkrankungen, offene Beine, das ist überhaupt nicht ästhetisch.“ Parallel zur Arbeit als Anästhesist bildete Triemer sich weiter, reduzierte die Arbeit in der Klinik.
„Jetzt bin ich auf 400 Quadratmetern mit sieben Angestellten.“ Nach SZ-Recherchen hat Triemers Umsatz 2018 noch 44.000 Euro betragen. Vier Jahre später sollen es 950.000 Euro gewesen sein.
Ebenmäßig zieht sich die Haut über die Wangen des 38-Jährigen, keine Falte fällt auf. „In Würde zu altern heißt für mich nicht, dass ich mich gehen lasse oder der Zeit einfach passiv zuschaue.“ Triemer wirbt mit „Best Aging“.
Klavier-Cover von den Beatles, Michael Bublé und Alicia Keys plätschern im Hintergrund, wie ein Edel-Wellnesstempel mutet die Praxis an. Der weiße Boden glänzt wie Eis, Goldenes und Pflanzen schmücken die Ecken, auf der Wendeltreppe ins Untergeschoss thronen Edelchampagner-Kartons mit Triemers Namen.
Gina ist über Instagram und Google auf ihn gekommen. Wie alle Patientinnen in diesem Artikel möchte sie anonym bleiben, heißt eigentlich anders. Migräneattacken plagen die 28-Jährige. Migräne-Blocker verträgt sie nicht mehr. Autorin Margarete Stokowski empfahl Botox als Mittel gegen Post-Covid-Migräne. „Ich halte sie für so glaubwürdig, dass ich denke, sie hat es für ihre Gesundheit gemacht“, sagt Gina.
Auch gegen Zähneknirschen und starkes Schwitzen lassen Leute sich Botox injizieren. „Triemer hat mich aufgeklärt, dass die Chance 50/50 steht, dass es was bringt.“
Sie ließ sich vergangenen Herbst in Nacken, Stirn und Kopf spritzen. Für 450 Euro. „Ein Weihnachtsgeschenk an mich selbst.“ Bald konnte sie die Brauen nicht mehr zusammenziehen. „Mein Freund hat mich am Anfang ausgelacht. Er sagte, er kann mich nicht mehr richtig ernst nehmen, wenn ich sauer bin.“ Die Migräne blieb.
Aus medizinischen Gründen hätte Gina es wieder gemacht. Aus ästhetischen nicht. „Das ist wie mit Fliegen, Autofahren oder Fast Fashion kaufen. Ich würde niemanden verurteilen, der das macht. Jugendliches Aussehen bringt einem als Frau Privilegien, und wir haben schon genug Nachteile. Aber ich glaube, ich hätte ein schlechtes Gewissen.“ Inzwischen helfen Betablocker ihr gegen die Migräne.
Philippa und Raffaela kommen seit Jahren zu Triemer, um Falten zu glätten.
„Beim ersten Mal war ich aufgeregt“, sagt Raffaela. Jetzt ist es Routine für die 35-Jährige, die durch ihre 47 Jahre alte Freundin darauf kam. Beide kommen aus Zwickau. Ihrem Kollegium erzählen die Frauen nichts. „Die schminken sich wenig, sind ganz natürlich. Es ist die Angst, verurteilt zu werden.“
Drängen würde sie die Gesellschaft. „Es wird alles lockerer, auch dass die jungen Leute sagen, du kannst jeden lieben. Ist ja richtig. Aber du siehst auf Plakaten nie jemanden mit tiefen Falten.“ Madonna, 64: faltenfrei, wenn auch starr. Naomi Campbell, 52: faltenfrei. Linda Evangelista, 57: aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil ein Eingriff schief gelaufen ist.
Raffaela sagt, sie mache es vor allem für sich selbst. „Man will sich ja gefallen.“
Triemer zeigt den beiden Fotos von früher. Ein Krähenfuß mit vielen Krallen zieht sich von Raffaelas Auge zum Haaransatz. Sieben Monate ist die letzte Behandlung her, die Krähenfüße sind noch immer kleiner als auf dem Bild. Triemer zeichnet Punkte um Augen, Stirn, Brauen. Eine Nadel sinkt in ihr Gesicht, so dünn, dass sie ohne Lichtreflexion kaum sichtbar wäre.
„Die Brauen sind autschi, ich weiß“, sagt Triemer und tupft einen Blutstropfen vom Gesicht. Die Haut rötet und wölbt sich, als hätten Mücken zugestochen. „In einer Viertelstunde ist alles wieder tippi toppi.“
Philippa lässt 320 Euro für Botox da, Raffaela 297. Nächster Termin in fünf Monaten. Zu welchen Therapien Triemer rät, hängt neben Haut und Wünschen vom Budget ab. „Mit 80 noch Bombe aussehen wie Cher passt nicht in jeden Geldbeutel.“
Zu seiner Klientel gehörten Schauspieler ebenso wie Kassiererinnen, das Gros sei 40 und älter. Manchmal kommen Jüngere, die aussehen wollen wie Influencerinnen oder wie Selfies, nachdem Instagram-Filter größere Augen, schmale Nasen, ein spitzeres Kinn gezeichnet haben. Vermeintlich so nah, das bessere Ich.
"Spritze, Spritze, Spritze, Geld, Geld, Geld"
„Ich sehe das sehr kritisch, wenn nicht hochgefährlich“, sagt Triemer. „Die bekommen eine völlig falsche Wahrnehmung. Da muss man als Arzt Grenzen aufzeigen.“ Wer die Patientin wegschicke, riskiere, dass sie zum nächsten Arzt geht. „Irgendeiner wird es machen. Manchen Billigketten geht es nur um Spritze, Spritze, Spritze, Geld, Geld, Geld.“
Früher waren die erfolgreichsten Topmodels Frauen, die jemand entdeckt hat. Heute sind es oft Kinder von Reichen, die ihre Gesichter so lange operiert haben, bis sie einem Ideal entsprechen. Kendall Jenner aus dem Kardashian-Clan, 2022 bestbezahltes Model der Welt, kam mit flacheren Brauen, breiterer Nase, tieferen Wangenknochen zur Welt.
Bella Hadid, das Kampagnengesicht sämtlicher Luxusmarken ist die wohl bekannteste Trägerin von „Foxy Eyes“. Ein unsichtbarer Faden zieht die Brauen und damit die Augen hoch.
Instagram macht Menschen unzufrieden mit ihrem Aussehen, sie wollen aussehen wie Stars und Filter
Katja Krasavice, derzeit Jurymitglied bei „DSDS“, hat neben veränderten Augen und Nasenflügeln auch Lippen, die so hoch sind wie breit – beinahe.
„Russian Lips“ heißt der Trend. „Die Welt ist voll von überinjizierten Lippen“, sagt Triemer.
Die Gesellschaft für ästhetische und plastische Chirurgie hat den Einfluss des Internets abgefragt. In der Gruppe der 18- bis 30-Jährigen stimmten weit mehr Behandelte zu, dass Posts von Promis oder Influencerinnen vermitteln würden, Eingriffe gehörten zur Normalität. Der Präsident des Berufsverbands spricht von einer Sekundär-Realität.
„Über diese Plattformen hat man die Möglichkeit, sich genauso darzustellen, wie man gerne gesehen werden würde“, so Alexander Hilpert. „Zahlreiche Statistiken belegen, dass der regelmäßige Konsum von Social-Media-Kanälen zu einer gesteigerten Unzufriedenheit im realen Leben führt.“
Man beobachte „ein verstärktes Aufkommen an Beautyketten, die mit Dumpingangeboten den Markt teils massiv vor allem über Social-Media-Kanäle bewerben“.
Kosmetikerinnen dürfen nicht spritzen und tun es doch
Ein Handspiegel liegt auf dem Schreibtisch von Steffen Handstein im Dresdner Königspark-Viertel. In einem Glaskasten tummeln sich Silikon-Implantate. Für Operationen kommen seine Patientinnen meist nach Görlitz. Dass Behandlungen ohne Operation als „minimalinvasiv“ gelten, kritisiert er. „Ich wehre mich gegen diesen Begriff. Man kann substanzielle Schäden erzeugen, wenn das Material an die falsche Stelle kommt, von der ungeübten Hand.“
Hyaluronsäure-basierte Füllmaterialien gelten nicht als Medikament, sondern als Medizinprodukt. Neben Ärzten dürfen auch Heilpraktiker sie anwenden. Viele, die Geld mit „Filler-Behandlungen“ machen wollen, lassen sich zu Heilpraktikern ausbilden. Auch in Dresden bieten einige Heilpraktiker an, Falten zu reduzieren. Oft günstiger als Ärzte.
„Es können jedoch schwerwiegende Komplikationen bis hin zur Erblindung auftreten. Es sind sogar Todesfälle beschrieben. Das ist, selbst wenn es sehr selten auftritt, alles andere als banal“, sagt Handstein. Wenn es nach Filler-Injektionen Probleme gibt, müssen Ärzte schnell handeln. Dafür haben sie verschreibungspflichtige Medikamente vorrätig, zu denen Heilpraktikern der Zugang fehlt.
Kosmetikerinnen ist es rechtlich grundsätzlich nicht erlaubt, solche Materialien zu spritzen. Trotzdem bieten einige es an. „Die beziehen die Stoffe aus irgendwelchen grauen Wegen im Internet. Je grauer die Quellen sind, desto schwieriger wird es, rauszukriegen: Ist tatsächlich noch das drin, was auf der Schachtel steht? Und hat das noch die Kriterien, die es braucht, um es sicher anzuwenden? Ist es etwa steril?“
Besonders gefährlich ist das „Brazilian But Lifting“, Eigenfett per Spritze in den Po. Handstein hat schon Hintern vergrößert, wirbt aber nicht mit dem Eingriff. „Wenn man eine Vene trifft, kann es zu zentralen Gefäßverschlüssen kommen. Da kann man einfach mal schlicht tot sein, sofort“, sagt er. Todesursache: Fettembolie. Erst kürzlich stand ein Internist vor Gericht, dessen Behandlung zwei Frauen getötet hat.
Handstein mahnt, der Alterungsprozess sei ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Knochen verändern sich, Gewebe, Haut. Ein dreidimensionaler Prozess. Keine einfache Oberfläche, die bloß genug Spritzen braucht.
„Die Behandlung muss ein Gesamtkonzept haben, das all diese Faktoren individuell berücksichtigt. Diese Souveränität erwirbt man nicht in Wochenendkursen, einem Master of Injectables oder wer weiß was. Wenn ich zum Discounter gehe, muss ich wissen, dass ich da kein Essen mit einer Qualität wie im Sternerestaurant bekomme.“
Regina will straffere Lider
Regina aus Freiberg hat ihre Tochter gebeten, eine Behandlung mit möglichst vielen Sternen zu suchen. Sie landete bei Stefan Passin, wartet im OP-Hemd hinter einem Vorhang. „Sie müssen mich nur anschauen“, sagt die 59-Jährige. „Man ist nicht mehr zufrieden, wenn man in den Spiegel schaut und die Lider hängen. Da sieht man so traurig aus, dabei bin ich ein fröhlicher Mensch.“
Regina will straffere Lider. „Egal wie ich mich schminke, es verläuft alles. Das ist doch scheiße, oder?“ Ein Jahr lang habe sie nachgedacht. „Ich hab mich total auf heute gefreut. Das ist ja nur die Oberhaut, kein Muskelgewebe. Ich will wieder aussehen wie vorher.“ Stefan Passin zeichnet Schnittlinien ein.
Propofol und Dormicum versetzen Regina in Schlummerschlaf. Passin lässt eine Spritze in die Haut um das Auge sinken. „Da ist Adrenalin mit drin, das verengt die Gefäße und verringert das Risiko für Hämatome.“ Ein Skalpell gleitet ins Lid. Passin zieht die abgeschnittene Kante mit der Pinzette in die Luft, schneidet das Lid an der anderen ab.
Die fischförmigen Hautstücke verweilen noch einen Moment zwischen den Instrumenten. Ihre frühere Besitzerin wackelt mit einem Kühlpack aus dem Saal. Sechs Tage später zieht Passin die Fäden. Patientinnen wie sie sind ihm lieber als 17-Jährige, die wie eine Kardashian aussehen wollen. „Instagram könnte man von mir aus abschaffen.“