Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht, sagt ein Sprichwort. Und schon gar nicht lässt er sich vorschreiben, was er isst. Das ist spätestens seit dem Aufstand gegen den Veggietag klar, mit dem die Bündnisgrünen vor acht Jahren den Massenkonsum von Fleisch eindämmen wollten. Kaum ein Politiker traut sich seither, laut über stärkere Eingriffe in die kollektive Ernährung der Deutschen nachzudenken – und seien die negativen Folgen auch noch so gut belegt.
Die Bundesernährungsministerin versucht, mit freiwilligen Initiativen die Wirtschaftsinteressen der Lebensmittelindustrie zu zügeln. Doch eine „nationale Reduktionsstrategie“ oder das zwanglose Label Nutriscore sind zu wenig, sagen nun nicht mehr nur Verbraucherschützer wie Foodwatch. Der Staat muss endlich mehr regulatorisch eingreifen, so eine der zentralen Botschaften auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), die Freitag zu Ende ging.
Fleischeslust muss sinken
Die bisherige Ernährungspolitik konzentriert sich vor allem auf eine gesündere Kost, und das aus gutem Grund. Schon fast jeder vierte Deutsche ist adipös. „In den USA, die uns etwa zwanzig Jahre voraus sind, sind es bereits knapp 40 Prozent“, sagt Ernährungswissenschaftler Peter von Philipsborn von der Uni München. Schätzungen zufolge waren 2017 in der EU über 950.000 Todesfälle und mehr als 16 Millionen verlorene gesunde Lebensjahre auf eine falsche Ernährung zurückzuführen.
Doch hinzu kommt jetzt noch ein zweiter gewichtiger Fakt: die Klimakrise. Etwa ein Viertel der globalen Treibhausemissionen entfallen auf die Lebensmittelproduktion. Weltweit werden immer mehr Tiere geschlachtet – 70 Milliarden Hühner und 1,5 Milliarden Schweine jährlich, oft qualvoll gehalten.
„Wenn Deutschland seine Nachhaltigkeitsziele erreichen will, müssen auch Landwirtschaft und Ernährung dazu beitragen“, sagt Professor Achim Spiller, Agrarökonom an der Uni Göttingen. „Dazu genügt es aber nicht, die Produktion anzupassen. Auch die Konsumgewohnheiten müssen sich ändern.“ Denn was nützt es beispielsweise, wenn künftig in mustergültigen Ställen nur noch wenige Schweine ein Wohlfühlleben führen, wenn nicht gleichzeitig die Fleischeslust sinkt.
Kennzeichnung? Mangelhaft
Die Bereitschaft, sich gesünder und klimafreundlicher zu ernähren wächst durchaus, wie repräsentative Umfragen belegen. Doch viele Menschen scheitern daran im Alltag, weil es ihnen schwer gemacht wird. Ein „korrekter“ Einkauf ist heute anstrengend und setzt Spezialwissen voraus. Da wird Fitnessbrot angeboten, das gar nicht fit macht.
Da gibt es Joghurt mit Superbakterien, die die Darmflora revolutionieren sollen. Fertigprodukte sind frei von allem Möglichen, aber voll von Unerwünschtem. Das Müsli sieht aus wie immer, hat aber klammheimlich an Gewicht verloren. Immer neue Label verheißen Heil für Mensch und Tier, ohne dass sich das nachprüfen lässt.
Und nicht jeder hat Zeit und Geld, mit dem Bastkörbchen zum Hofladen zu gehen. „Die Ernährungsverantwortung lastet in Deutschland zu sehr auf dem Konsumenten“, sagt Spiller. „Er ist mit der Vielzahl sich teils widersprechender Empfehlungen überfordert.“ Zudem sei der soziale und ökologische Fußabdruck eines Lebensmittels bislang gar nicht ausreichend erfasst und für Verbraucher nicht erkennbar.
Kein Blick aufs Ganze
Der Professor gehört einem unabhängigen Beirat aus 18 Wissenschaftlern an, die das Bundesernährungsministerium beraten. In einem 879 Seiten dicken Gutachten, in dem dreieinhalb Jahre Arbeit stecken, legen sie der Regierung einen Systemwechsel nah – hin zu mehr staatlicher Steuerung des Konsums. „Wir erleben ein partielles Marktversagen in der Ernährungswirtschaft, das zu erheblichen Nachhaltigkeitsdefiziten und hohen volkswirtschaftlichen Belastungen führt“, erklärt Spiller.
Der Grundfehler bestehe darin, dass sich die Politik bislang auf einzelne Essentscheidungen konzentriere, anstatt die gesamte Ernährungsumgebung in den Blick zu nehmen. Die Wissenschaftler verstehen darunter den Prozess, der von der Darstellung von Lebensmitteln über den Zugang, die Auswahl bis hin zum Konsum reicht.
16 Millionen Euro für Ernährung
Das beginnt damit, dass Werbung und soziale Medien die Wahrnehmung meist auf ungesunde Produkte lenken. „In Deutschland wurden 2017 etwa 870 Millionen Euro für Süßwarenwerbung ausgegeben, für Obst- und Gemüse-Marketing aber nur 17 Millionen“, sagt Ernährungswissenschaftler von Philipsborn. Mit einer Gurke lässt sich halt weniger Gewinn erzielen als mit einer Tüte Gummibärchen.
Demgegenüber stehen 16 Millionen Euro, die die Bundesregierung vergangenes Jahr zur „Förderung einer ausgewogenen Ernährung“ eingeplant hatte. Ungesunde Lebensmittel sind heute überall und fast jederzeit verfügbar. Der Mensch trifft täglich etwa 200 Essentscheidungen – viele davon unbewusst. „Was wann, wo und wie viel gegessen wird, hängt unabhängig vom Nährwert auch von gelernten Normen, sozialem Status, von Vorlieben, dem Preis oder der Popularität eines Produktes ab“, sagt Professorin Britta Renner, die am Gutachten mitgearbeitet hat.
Unterschätzt sei bislang der Einfluss von Faktoren wie Ambiente, Zeitdruck oder Gemeinschaftlichkeit. Insofern sind für Renner freie Ernährungsentscheidungen schon heute eine Illusion. Statt diese von wirtschaftlich getriebenen Akteuren lenken zu lassen, solle die Politik lieber eine gesellschaftlich wünschenswerte nachhaltige Ernährung fördern.
Werbung soll eingeschränkt werden
Wie das konkret aussehen könnte, sagen die Wissenschaftler auch. So sollen Preisanreize dafür sorgen, dass wenig nachhaltige Produkte auch weniger gegessen werden – beispielsweise durch Abschaffen der reduzierten Mehrwertsteuer für tierische Erzeugnisse, eine Steuer auf Süßgetränke, die sich am Zuckergehalt bemisst sowie eine Nachhaltigkeitssteuer auf alle Lebensmittel.
Die Mehreinnahmen sollen in Investitionen fließen – insbesondere in eine qualitativ hochwertige, beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung, wie es Berlin bereits vormacht, in mehr Tierwohl und eine geringere Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte. Für sozial Schwache soll es einen Ausgleich geben.
Zudem empfehlen die Gutachter, Werbung für ungesunde Kinderprodukte einzuschränken, den Nutriscore in der Werbung verpflichtend zu machen, die DGE-Qualitätsstandards in der Gemeinschaftsverpflegung und ein staatliches Nachhaltigkeitslabel einzuführen .
Kein Ende wie der Veggieday
Viele dieser Vorschläge dürften für starken politischen Gegenwind sorgen – schon aus Angst vorm Zorn der Wähler. „Doch andere Länder regulieren bereits viel stärker“, sagt Peter von Philipsborn. So gebe es in mehr als 50 Staaten eine Lebensmittelsteuer, vor allem auf Süßgetränke, was zu einem gesunkenen Verbrauch geführt habe. In 17 Ländern sei das Marketing für ungesunde Produkte beschränkt worden.
Ein häufiges Gegenargument, dass der Effekt solcher Eingriffe auf Gesundheit und Klima nicht eindeutig wissenschaftlich belegbar sei, lässt Gutachter Spiller nicht gelten. „Es geht nicht um Einzelmaßnahmen, sondern um einen breiten, gut abgestimmten Instrumentenmix“, sagt er. „Dazu braucht es einen langen Atem, keine Angst vor Fehlern und natürlich auch viel Geld.“ Allein für eine staatlich finanzierte Kita- und Schulverpflegung werde man etwa 5,5 Milliarden Euro zusätzlich benötigen. Im Verhältnis zu den Folgekosten der bisherigen Ernährung halten die Wissenschaftler Mehrausgaben aber für „geboten“.
Die größte Herausforderung dürfte allerdings sein, die unterschiedlichen Akteure für eine gemeinsame Ernährungsstrategie zu gewinnen: nicht nur auf Ebene von EU, Bund, Ländern und Kommunen, sondern übergreifend auf konkurrierende Ressorts. Sonst droht das Ganze so wie der Veggieday zu enden: in der Tonne.