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Tausende Patienten bekommen die falschen Schmerzmittel

Herzschwäche, Darmverschluss, Nieren- und Blutkrankheiten können Folgen einer falschen Schmerztherapie sein. Sie sind häufig, aber vermeidbar, zeigt der neue Arzneimittelreport.

Von Stephanie Wesely
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Schmerzmittel wie Ibuprofen werden oft falsch verordnet und eingenommen.
Schmerzmittel wie Ibuprofen werden oft falsch verordnet und eingenommen. © dpa

Schmerzen machen den Alltag zur Tortur, besonders wenn sie anhaltend oder chronisch sind. Mehr als jeder zweite Mann und zwei Drittel der Frauen gaben in einer repräsentativen Befragung für den Barmer-Arzneimittelreport an, im letzten Jahr Schmerzen gehabt zu haben. Der Report wurde am Mittwoch vorgestellt. Die Studienautoren haben dafür Daten von 6,8 Millionen Barmer-Versicherten ohne Tumordiagnose auf alle gesetzlich Versicherten hochgerechnet.

Danach bekamen rund 17 Millionen gesetzlich Versicherte im Jahr 2021 ein Schmerzmittelrezept. Dem Report zufolge litten viele unter Nebenwirkungen, die auf Fehler in der Auswahl des Medikaments oder in der Kombination mit anderen zurückgeführt wurden.

Welche Schmerzwirkstoffe wurden am häufigsten verordnet?

Mehr als jedes sechste bei der Barmer abgerechnete Rezept enthielt Schmerzmittel. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilt Schmerzmittel je nach Stärke in drei Stufen ein: 1. Nicht-Opioide wie ASS, Ibuprofen oder Paracetamol, 2. schwache Opioide wie Codein, Tramadol oder Tilidin und 3. starke Opioide wie Morphin, Buprenorphin, Fentanyl, Oxycodon.Mit 1,7 Millionen Verordnungen bei Barmer-Versicherten führt Ibuprofen 2022 die Hitliste an. Das sind rund elf Prozent mehr Verordnungen als ein Jahr zuvor. Metamizol – zum Beispiel Analgin – liegt mit knapp 1,3 Millionen behandelten Patienten und einer Steigerung von sieben Prozent auf Platz zwei. Zu den häufig verordneten Schmerzwirkstoffen gehörten auch Diclofenac – zum Beispiel in Voltaren – mit knapp 350.000 und Acetylsalicylsäure (ASS) mit 317.000 behandelten Patienten. Opioide bekamen rund 93.000 Barmer-Versicherte – hochgerechnet auf alle gesetzlich Versicherten sind das 2,7 Millionen.

Welche Probleme zeigt der Report bei Ibuprofen und Diclofenac?

Ibuprofen und Diclofenac sollen Patienten mit Herzschwäche nicht verordnet werden, weil selbst ein kurzer Einsatz dieser Mittel die Herzleistung deutlich verschlechtern kann. Hochgerechnet bekamen aber dennoch drei Prozent – rund 526.000 – dieser Patienten dieses für sie falsche Schmerzmittel. Auch bei Nierenfunktionsstörungen sind Ibuprofen und Diclofenac nicht geeignet, wurden aber verordnet. „Unnötige Krankenhausaufenthalte und ein höheres Sterberisiko waren die Folgen“, sagt Professor Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Wie gefährlich sind Opioide, zum Beispiel Morphium?

Sie gehören zu den stärksten Schmerzmitteln und sind sehr wirksam. Doch die Behandlung ist genau zu überwachen. Denn eine bekannte Nebenwirkung ist die Lähmung der Darmfunktion bis hin zum Darmverschluss. Fünf von 10.000 Patienten mit Opioidtherapie mussten deswegen ins Krankenhaus. Eine prophylaktische Verordnung von Abführmitteln vermeidet das. „Doch kaum jeder dritte Opioid-Patient bekam Abführmittel“, sagt Professor Daniel Grandt, Studienautor und Chefarzt für Innere Medizin am Klinikum Saarbrücken. Opioide sollten zudem nicht zusammen mit Beruhigungsmitteln angewendet werden, weil die Gefahr schwerer Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen drohe. Doch jeder zehnte Opioid-Patient bekam diese riskante Medikamentenkombination, besonders bei Langzeitverordnungen.

Was ist bei der Behandlung mit Metamizol zu beachten?

Metamizol, zum Beispiel Analgin, ist Daniel Grandt zufolge sehr wirksam gegen Schmerzen, Fieber und Koliken, aber auch umstritten. Denn das Mittel kann in Einzelfällen schwerste Schädigungen der blutbildenden Zellen verursachen, die sogenannte Agranulozytose. „Großbritannien, Frankreich und die USA haben es deshalb nicht zugelassen, Schweden hat es vom Markt genommen“, sagt er. Doch trotz Risikowarnung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und der Einschränkung ausschließlich zur Behandlung von starken Schmerzen nehme sein Einsatz kontinuierlich zu, wie auch die Verbrauchsanalysen des Reports zeigen. Besonders in Kombination mit dem Wirkstoff Methotrexat zur Behandlung von Entzündungen und Krebs steige das Risiko für die Blutkrankheit um das 24-fache, vor allem bei älteren Menschen. „Unsere Analysen zeigen aber, dass diese Kombination bei mehr als einem Prozent der barmer-versicherten Patienten erfolgt – das waren 10.100 Menschen“, sagt Daniel Grandt. Allein durch die Vermeidung dieser Hochrisikokombination würden jährlich 90 stationäre Aufnahmen mit der potenziell tödlich verlaufenden Blutkrankheit vermieden. Dem Studienautor zufolge wird Metamizol zu unkritisch eingesetzt.

Lassen sich diese Medikationsfehler vermeiden?

„Da, wie unsere Studie zeigt, jeder fünfte Patient Schmerzmittel von vier und mehr verschiedenen Ärzten bekommt, ist die Behandlung ohne digitale Unterstützung kaum mehr überschaubar“, sagt Daniel Grandt. „Bei derzeit etwa 1.886 verfügbaren Wirkstoffen für eine ambulante Verordnung ergeben sich fast zwei Millionen Kombinationsmöglichkeiten.“ Zudem seien Schmerzmittel wie Ibuprofen, Diclofenac und andere auch rezeptfrei erhältlich. Sie gehören zu den häufigsten selbst gekauften Medikamenten in Apotheken. Straub würdigt deshalb die Anstrengungen des Bundesgesundheitsministeriums, die elektronische Patientenakte weiter voranzutreiben. „Das ist die technische Grundlage für eine bessere Überwachung der gesamten Arzneimitteltherapie, insbesondere aber in der Schmerzbehandlung“, so Straub. Die Aufgabe der politisch Verantwortlichen sei es, die gesamte Arzneimitteltherapie digital zu erfassen, idealerweise auch für frei verkäufliche Mittel. Es brauche einen zentralen Datenspeicher, der auch die Wechselwirkungen prüft. Das Barmer-Innovationsfondsprojekt AdAM – Anwendung für digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management – biete innerhalb der elektronischen Patientenakte diese Möglichkeit. Doch auch Krankenkassen wie die AOK Plus hatten mit ArMIN – der Arzneimittelinitiative für Sachsen und Thüringen – solche Projekte, die dann aber nicht fortgesetzt wurden. „Kommt ein solches Angebot in die Regelversorgung, könnten jedes Jahr bis zu 70.000 Menschenleben gerettet werden“, so Straub.

Wie haben sich die Kosten für alle Medikamente entwickelt?

Die Arzneimittelausgaben der Barmer beliefen sich 2021 auf knapp sieben Milliarden Euro – knapp sechs Prozent mehr als 2020. den gleichen Anstieg gab es auch im Jahr 2022, wo 7,8 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgegeben werden mussten. Dabei verteilt sich die Hälfte der Kosten auf fünf Wirkstoffe: Pembrolizumab gegen Krebs, Apixaban und Rivaroxaban gegen Thrombose, Adalimumab gegen Rheuma und Ustekinumab gegen schwere Entzündungen. Die Anzahl der mit diesen Wirkstoffen behandelten Patienten steigt von Jahr zu Jahr.

Für Fragen zur Schmerzmittelbehandlung, insbesondere zu riskanten Kombinationen mit anderen Medikamenten, hat die Barmer eine Hotline geschaltet. Die kostenfreie Rufnummer lautet 0800 8484111. Beratung erhält man außerdem in Apotheken.