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„Ich habe seit 20 Jahren MS – und führe ein normales Leben“

10.000 Sachsen haben Multiple Sklerose. So wie Nele von Horsten aus Pirna. Doch sie ist in ihrem Alltag beinahe beschwerdefrei, hat eine Tochter geboren und wird künftig nicht nur mit, sondern auch von ihrer Krankheit leben.

Von Sylvia Miskowiec
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Tjalf Ziemssen, Leiter des Multiple Sklerose Zentrums der Uniklinik Dresden, im Gespräch mit seiner Multiple-Sklerose-Patientin und Podcasterin Nele von Horsten
Tjalf Ziemssen, Leiter des Multiple Sklerose Zentrums der Uniklinik Dresden, im Gespräch mit seiner Multiple-Sklerose-Patientin und Podcasterin Nele von Horsten © Jürgen Lösel

Plötzlich war alles verschwommen. Farben wurden immer matter. Dass dies der Anfang einer lebenslangen Erkrankung war, wusste Nele von Horsten vor 20 Jahren noch nicht. Denn was 2003 in ihrem Körper passierte, war ein „Schub“ – ihre Multiple Sklerose meldete sich das erste Mal. „Ich dachte erst, ich hätte was mit den Augen“, sagt die jetzt 42-jährige Pirnaerin. Da sie gerade unterwegs in Düsseldorf war, wendete sie sich ans dortige Uniklinikum.

Die Ärzte erkannten zwar eine Sehnerventzündung, doch merkten, dass auch etwas anderes nicht stimmte. Mittels Magnetresonanztomografie (MRT) schauten die Mediziner in den Kopf ihrer Patientin. Und bekamen Zweifel, dass es sich nur um eine Augenkrankheit handelt, was sich ein paar Monate später nach weiteren neurologischen Untersuchungen und MRTs bestätigte. „MS hinterlässt Spuren im Gehirn, ähnlich wie Narben auf der Haut“, sagt der Dresdner MS-Spezialist Tjalf Ziemssen. Zum Glück, müsse man sagen, denn ansonsten wäre eine Diagnose noch schwieriger, als sie ohnehin schon ist. „MS wird nicht umsonst die Krankheit der 1.000 Gesichter genannt“, so Ziemssen. Zudem würden etwa 90 Prozent der eigentlich kranken Aktivitäten im Körper gar nicht bemerkt, im MRT aber sichtbar.

Der eigene Körper schaltet auf Abwehr

Bei MS-Patienten greift das körpereigene Immunsystem fälschlicherweise gesunde Zellen an und sorgt für Entzündungen im zentralen Nervensystem, Gehirn und Rückenmark inklusive. Meist geschieht dies schubweise. Viele Patienten berichten anfangs von Sehproblemen, aber auch von unspezifischen Schmerzen auf der Haut und Missempfindungen wie Kribbeln und Taubheitsgefühlen. „Glücklicherweise sind mittlerweile viele Hausärzte sensibilisiert, was MS angeht und überweisen schneller als früher zu Neurologen“, sagt Ziemssen.

In Deutschland leben laut Bundesgesundheitsamt rund 280.000 Menschen mit MS, rund 10.000 von ihnen in Sachsen. Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer. Eine Aussicht auf Heilung hat niemand. „Doch wenn die MS früh erkannt wird, können Patienten heutzutage häufig ein weitgehend normales Leben führen“, beruhigt Ziemssen. Die Behandlung verhindere zurzeit aber nur weitere Schäden. Bei Patienten, deren Nervensystem bereits so angegriffen ist, dass sie kaum laufen können und im Rollstuhl sitzen, gibt es nur spezielle Therapien mit sehr eingeschränkten Erfolgen. Durch detaillierte Kontrolle und frühe Behandlung müsse es nicht zwangsläufig so kommen. Nele von Horsten ist ein gutes Beispiel. Da ihre Symptome anfangs sehr begrenzt waren, wurde sie nicht sofort behandelt, sondern nur zu regelmäßiger Kontrolle aufgefordert. „Das war der damalige Stand der Wissenschaft. Heute würde man sicher früher mit der Behandlung beginnen“, sagt sie.

Weihnachten 2008 meldet sich ihre MS ein zweites Mal, dieses Mal mit Taubheitsgefühlen. Die junge Frau ist auf Heimatbesuch in Dresden, doch ihre Neurologin im Urlaub. „Daher habe ich mich an die Uniklinik gewendet, wo mir das neue MS-Zentrum von Professor Ziemssen empfohlen wurde“, erinnert sich Nele von Horsten. Die nach eigenen Angaben größte universitäre Spezialambulanz Deutschlands wurde 2006 gegründet und gilt mittlerweile bundesweit als eine der renommiertesten auf ihrem Gebiet. Die Patienten kommen teils von weit her. Auch Nele von Horsten wohnte bis 2021 in Berlin und ein Jahr an der Nordsee, hielt aber stets den Kontakt zu den Dresdner Experten. Und die zögerten Ende 2008 nicht und begannen kurze Zeit später die Therapie.

Bauch, Beine oder Po - die Spritze ist Pflicht

„Das war schon hart“, gesteht Nele von Horsten, die damals vor allem im asiatischen Raum für eine internationale Spezialchemiefirma Messen betreut hatte. Egal, wo sie war, jeden Tag musste sie sich eine Spritze setzen – „überall dorthin, wo man ein bisschen mehr Fettgewebe hat.“ Bauch, Oberschenkel, Po, nur die Oberarme habe sie ausgelassen. Und die ersten Wochen mit der kugelschreiberähnlichen Spritze oft eine Viertelstunde dagesessen, bis sie es sich getraut habe, zu spritzen.

In dem Cocktail, den sich MS-Patienten vorbeugend verabreichen, steckt eine hochkomplexe Mischung an Medikamenten, welche die Entzündungsreaktionen im Köper reduzieren sowie bestimmte Einschränkungen und auch den nächsten Schub hemmen sollen. „Das ist manchmal eine langwierige Sache“, gesteht Ziemssen. Doch die Medizin sei hier sehr weit, sodass immer mehr Patienten wirksam geholfen werden könne. Kommt es dennoch wieder zu einem Schub, wird in der sogenannten Akutbehandlung in der Regel hochdosiertes Cortison eingesetzt, um die Entzündungsreaktionen zu stoppen. Wirkt dieses nicht, ist eine mehrfache Blutwäsche möglich, bei der das körpereigene Plasma durch fremdes oder menschliches Albumin, ein Protein, ersetzt wird.

Schwanger trotz MS

Nele von Horsten blieb eine solche Rosskur erspart. Die vorbeugenden Medikamente schlugen sofort an, die Sensibilität in Fingern und Zehen wurde besser. Nebenwirkungen gab es keine. Seither ist Nele von Horsten „stabil“, wie es Professor Ziemssen nennt. Keine Taubheitsgefühle mehr bis in die Fingerspitzen, und schwanger konnte sie auch werden. Ihre Tochter ist jetzt viereinhalb. „Was früher kaum denkbar erschien, ist jetzt Realität – es gibt Therapien, die sich mit einer Schwangerschaft gut vertragen“, bekräftigt Ziemssen.

Nele von Horsten war vor ihrer Schwangerschaft bei drei statt den anfangs sieben Spritzen pro Woche angelangt. Nach den ersten drei Schwangerschaftsmonaten setzte die werdende Mutter die MS-Medikamente sogar ganz ab – anderthalb Jahre lang tolerierte das ihr Körper, offenbar getriggert durch seine Funktion als Versorger eines Kindes. Dann kam ein kleiner Schub, und Nele von Horsten hatte erneut Glück: Die Medizin von früher wirkte auch jetzt wieder. Aller drei Monate lässt sie sich checken, ein MRT pro Jahr ist Pflicht.

Ein Podcast, der Mut machen soll

Mit den Jahren hat sich Nele von Horsten viel Wissen über ihre Krankheit angeeignet und Kontakte zu Patienten wie auch Medizinern geknüpft. „Ich möchte meine Erfahrungen gern weitergeben und anderen damit Mut machen“, sagt sie. Das war nicht immer so: Den Kollegen der Chemiefirma hatte sie nie etwas gesagt. Erst mit ihrer Schwangerschaft sei Schluss mit dem Verstecken gewesen. Sie setzte unter dem Künstlernamen Nele Handwerker ihren Blog und Podcast „MS-Perspektive“ auf. Mittlerweile stehen mehr als 200 Folgen zum Anhören bereit, in denen Experten und MS-Patienten der Interviewerin Rede und Antwort stehen. Und nicht nur das: „Ich studiere aktuell Multiple-Sklerose-Management bei Professor Ziemssen an der Dresden International University“, sagt Nele vom Horsten. „Nach meinem Master-Abschluss kann ich Menschen mit chronisch entzündlichen neurologischen Erkrankungen nicht mehr nur Mut machen, sondern auch umfassend und nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen versorgen.“

MS-Veranstaltung an Dresdner Uniklinik

  • Am Samstag, den 2. September, findet von 10 bis 14 Uhr vor und im Medizinisch-Theoretischen Zentrum an der Fiedlerstraße 42 in Dresden das große Abschlussfest der „Multiple Sklerose 360°-Aktion“ statt.
  • Ein halbes Jahr dauerte die virtuelle Safari, auf der das MS-Zentrum die vielfältigen Aspekte rund um die Multiple Sklerose mit einem Podcast und vielen Aktionen auf Social Media angesprochen hat.
  • Interessierte können sich unter anderem auf Vorträgen informieren und in einem MS-Simulator selbst Symptome der Krankheit erfahren.