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Diagnose Multiple Sklerose: "Ich wusste nur, dass ich damit leben muss"

Ivonne Dähn erhielt als junge Frau die Diagnose Multiple Sklerose. 24 Jahre später findet sie im Uniklinikum Dresden einen Hoffnungsschimmer. Ein neues Medikament könnte gegen die Krankheit helfen - wenn auch nicht mehr ihr selbst.

Von Juliane Just
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Die Erkrankung Multiple Sklerose nahm Ivonne Dähn bereits in jungen Jahren die Kraft, sich auf ihren eigenen Beinen zu halten. Heute ist ein Elektromobil ihr ständiger Begleiter.
Die Erkrankung Multiple Sklerose nahm Ivonne Dähn bereits in jungen Jahren die Kraft, sich auf ihren eigenen Beinen zu halten. Heute ist ein Elektromobil ihr ständiger Begleiter. © Marion Doering

Dresden. Es begann mit einem Schleier vor den Augen. Ivonne Dähn war Anfang 20, eine junge, dynamische Frau. Sie trieb stets Sport, fuhr gern Rad, war irgendwie immer in Bewegung. Heute ist die inzwischen 45-Jährige auf ein Elektromobil angewiesen, alleine kann sie nur noch schlecht laufen. "Es war viele Jahre schleichend", sagt sie rückblickend.

Mit "es" meint sie die Multiple Sklerose. Die entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems wird aufgrund ihres individuellen Verlaufs auch die "Krankheit mit den 1.000 Gesichtern" genannt. Klar ist, vereinfacht gesagt: Der Körper greift sich selbst an und schädigt das Hirn und seine Nervenzellen. Mal mit kleineren Schüben, mal mit gröberen Stößen. Je nach betroffener Hirnregion kann der Erkrankte dann beispielsweise schlechter laufen, andere wiederum sehen schlechter.

Doch lange war nicht klar, ob Ivonne Dähn an dieser Krankheit leidet. Weil der Schleier vor ihren Augen nicht verschwindet, geht sie zum Augenarzt. Der schickt sie zum Neurologen. Ein MRT zeigt etwas Ungewöhnliches, aber nichts Eindeutiges. Es könnte Multiple Sklerose sein, sagen die Ärzte der jungen Frau. Könnte. "Ich habe damals nichts gedacht", erinnert sie sich und zuckt mit den Schultern. Das Wort "könnte" beinhaltet eben auch: Könnte nicht.

Diagnose Multiple Sklerose: "Plötzlich fehlte mir die Kraft zum Laufen"

Doch dann geben die Beine der sportlichen Frau, die bis heute zierlich ist, auf. Das Gehen fällt ihr immer schwerer. "Plötzlich fehlte mir die Kraft zum Laufen und das in so jungen Jahren", sagt sie. Sie hofft auf die Hilfe verschiedener Ärzte, doch sie wird noch Jahre in Ungewissheit bleiben.

Es ist 2001, als die damals 23-Jährige die Diagnose schwarz auf weiß erhält: Multiple Sklerose, kurz MS. "Ich habe das nie ganz verstanden", erinnert sie sich heute. "Ich wusste nur, dass ich damit leben muss." Es folgen Therapien, die sich anfangs anfühlen "wie ein Knall ins Gesicht". Ivonne Dähn verträgt die Infusionen nicht, ihre Haare fallen aus, es geht ihr elend.

In Deutschland geht es etwa 280.000 Menschen genauso wie ihr, schätzt der Bundesverband der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. Jährlich kommen 15.000 Menschen mit der Diagnose hinzu. Eine Aussicht auf Heilung gibt es für keinen der Erkrankten.

Viele Patienten könnten jedoch gut mit der Krankheit leben, sagt Ivonne Dähn. Sie habe gelesen, manche laufen mit MS sogar Marathon. Ihr behandelnder Arzt Tjalf Ziemssen, Spezialist am Uniklinikum Dresden, nickt zustimmend. Seit 2018 ist Ivonne Dähn seine Patientin. Für die Behandlung in Dresden fährt sie aus der Kleinstadt Schöneck im Vogtland bis zu vier Stunden hin und zurück. Doch sie wollte nach Dresden, denn dort gab es einen Hoffnungsschimmer.

Neues Medikament gegen MS wird in Dresden erforscht

Das Uniklinikum nimmt neben drei weiteren MS-Zentren in Deutschland sowie weiteren auf der ganzen Welt an einer Medikamentenstudie teil. Das Medikament arbeitet erstmals bei dieser Krankheit mit einer Antikörper-Therapie. Der Antikörper wird, vereinfacht gesagt, mittels eines Shuttles durch die Blut-Hirn-Schranke geschleust und eliminiert dort die Immunzellen, die die Schübe der Krankheit auslösen. Ein intelligenter Antikörper, der, einmal eingeschleust, selbständig arbeitet.

"Wenn diese Variante Erfolg hat, wäre das für viele andere Erkrankungen wie beispielsweise Krebs ein Ansatz", sagt Tjalf Ziemssen. Mit dem Töten der Immunzellen soll der Krankheitsverlauf gestoppt werden, die fortlaufenden Schädigungen des Gehirns aufgehalten werden.

Aber noch steht man ganz am Anfang. Das Medikament befindet sich in der sogenannten Phase I. Es braucht mindestens drei Phasen, bis das Medikament für den Markt zugelassen werden kann. Acht Jahre werden bis dahin vergehen, wenn es gut läuft, so der MS-Spezialist. An der Patientin Ivonne Dähn werden nun Dosis und Effekt des Medikaments erforscht. Die Mediziner beobachten, was in ihrem Gehirn passiert und wie das Medikament anschlägt.

MS-Patientin: "Ich möchte anderen helfen"

Doch in dieser jungen Phase des neuen Medikaments ist es wahrscheinlich, dass Ivonne Dähn selbst nichts mehr davon hat. Es wird ihre Krankheit nicht mehr aufhalten können. "Alle haben mich gefragt, warum ich das mache. Ich möchte anderen helfen", sagt sie. Mehrmals in der Woche tritt sie dafür den mehrstündigen Weg nach Dresden an.

Die Erkrankung hat es Ivonne Dähn manchmal schwer gemacht, aber sie hat sich ihr Leben nicht nehmen lassen. Nach der Diagnose wurde sie schwanger und brachte einen gesunden Jungen zur Welt, der heute 13 Jahre alt ist. Sie wurde pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin und arbeitete, bis sie etwas unfreiwillig verrentet wurde. Mobil ist sie inzwischen nur noch mit ihrem fahrbaren Untersatz. Wenn das Einparken mal nicht klappt, nimmt sie das mit einem Lächeln hin. Seit der Diagnose vor 24 Jahren hat ihr Gegner einen Namen - "und ich freunde mich nicht mit Gegnern an."