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"Ohne ADHSler säßen wir noch auf dem Baum"

Die Diplom-Psychologin Antje Döhner-Unverricht aus Dresden berät auch Frauen mit ADHS. Sie weiß, was es für diese heißt, erst so spät die Diagnose zu erhalten.

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Diplom-Psychologin
Antje Döhner-Unverricht kennt sich aus mit dem Thema Frauen und ADHS - sie habe selbst "einen leichten Touch" der Störung, sagt sie.
Diplom-Psychologin Antje Döhner-Unverricht kennt sich aus mit dem Thema Frauen und ADHS - sie habe selbst "einen leichten Touch" der Störung, sagt sie. © privat

Frau Döhner-Unverricht, bei ADHS denken viele zuerst an den Zappelphilipp. Aber bei Mädchen und Frauen zeigt sich die Störung mitunter ja anders.

Es gibt eine Unterscheidung von ADHS und ADS, also dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne die Hyperaktivität. Letzteres ist bei Mädchen wesentlich häufiger. Sie sind dann eher zurückgezogen, verträumt, schauen aus dem Fenster und haben einen geringen Selbstwert. Im Erwachsenenalter verliert sich bei entsprechend guter Förderung ein bisschen was von dem ADS. Und dann haben wir das Problem der Differenzialdiagnostik. Die ist gar nicht so einfach, denn vor allem mit Traumatisierungen gibt es viele Überschneidungen.

Führen die Unterschiede dazu, dass Frauen die Diagnose seltener und später erhalten?

Ja, das ist so. Ein verträumtes Mädchen, das nicht hinterherkommt, ist ja nicht so störend, nicht so aktiv nach außen, sondern nach innen. Am Ende des Tages kann sich der Lehrer vielleicht gar nicht erinnern, ob sie heute da war oder nicht. Bei dem, der über Tische und Bänke gegangen ist, kann er sich erinnern. Da gibt es einen ganz großen Unterschied in der Diagnostik und auch in der Behandlung.

Was bedeutet es für die Betroffenen, wenn sie erst als Erwachsene von der Diagnose erfahren?

Dass viel wertvolle Zeit, in der Entwicklung stattgefunden hat, verstrichen ist, dieser niedrige Selbstwert sich verfestigt und unter Umständen noch eine Komorbidität nach sich gezogen hat. Essstörungen sind zum Beispiel häufig. Man versucht sich Selbstwert über Äußerlichkeit zu holen. Und dann steuere ich hinein ins Berufsleben und vielleicht in die Rolle als Mutter mit den ganzen Schwierigkeiten, die ich bereits am Hacken habe – und bekomme wieder nur Ablehnung.

Was raten Sie Erwachsenen, die bei sich ADHS vermuten?

Wenn wir ein gut funktionierendes System hätten, würde ich raten, dass man sich von seinem Hausarzt eine Überweisung in ein entsprechendes Zentrum geben lässt. Doch die sind alle überlastet. Deshalb rate ich, sich zunächst einem Selbsthilfenetz anzuschließen, um sich Erfahrungen zu holen und auch ein paar Tipps, wie man am besten vorgeht, um zu einer Diagnostik zu kommen. Das Problem bei ADSlern ist ja: Sie merken, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, aber wie bei allem anderen auch wird prokrastiniert, das heißt, sie schieben es hinaus und es fällt ihnen schwer, durchzuhalten bis zur Diagnostik.

Also ist der Weg zur Diagnose und einem Therapieplatz durchaus beschwerlich und lang?

Ja, und er ist genau so gestaltet, dass der ADSler es nicht schaffen kann, denn genau die Fähigkeiten, die er braucht, fehlen ihm ja. Es ist vorrangig eine Störung der Exekutivfunktion. Das heißt, ich habe zwar im Kopf, was es werden soll, aber mir fehlt der Plan, um zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen.

Vom Negativen einmal abgesehen: Hat ADHS auch Vorteile?

Ja, klar. Ich habe selbst einen leichten Touch ADHS, das hat den Nachteil, sich zu überarbeiten, aber andererseits erfasst man Sachen sehr schnell und auch wenn man gescheitert ist, geht man mit Optimismus ans Nächste heran. Diese Menge an Energie und Ideen hat auch Vorteile. Wenn wir keine ADHSler gehabt hätten, würden wir immer noch auf dem Baum sitzen. Aber auch dieses Verträumte hat etwas Wunderbares, weil es gleichzeitig viel Achtsamkeit für die kleinen Dinge mitbringt. Das sind Menschen, die sehr achtsam mit der Natur umgehen, sehr vorsichtig mit anderen Lebewesen und der Welt überhaupt.

Das Interview führte Dominique Bielmeier.

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