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Pflege im sozialen Brennpunkt

Was es heißt, in einem Problemviertel Menschen zu betreuen, die sich nicht mehr selbst helfen können: Auf Tour mit einer Altenpflegerin in Dresden.

Von Tobias Wolf
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Die 100 Jahre alte Ingeborg Schemeinda bekommt jeden Tag Besuch von ihrer Pflegerin.
Die 100 Jahre alte Ingeborg Schemeinda bekommt jeden Tag Besuch von ihrer Pflegerin. ©  Ronald Bonss

Dresden. Wenn Schwester Barbara* an ihre Grenzen kommt, denkt sie manchmal an später, an jenen Moment im Leben, in dem weniger vor als hinter einem liegt: „Hoffentlich ende ich nicht mal so.“ Meistens wischt die 48-jährige Altenpflegerin diese Gedanken beiseite, weil Grenzen jeden Tag überschritten werden. So wie jetzt.

Ein Wochentag, 6.41 Uhr. Barbaras Schritte hallen über den Flur im dritten Stock eines 17-Geschossers in Dresden-Gorbitz. Fahles Licht kaschiert verblichene Wände und Fußböden nur mühsam. Klient Nummer sieben wartet. Draußen geht die Nacht in neblige Morgendämmerung über.

Das Hochhausensemble kennt jeder Polizist. Zu DDR-Zeiten Top-Wohnlage, hat sich die Gegend zum sozialen Brennpunkt entwickelt. Arme und Asylbewerber leben mit wenigen gut situierten Erstbeziehern Tür an Tür. Ein Dutzend Firmen betreut hier Bewohner. Barbara arbeitet seit 24 Jahren für den Pflegedienst Fütterer. 300 Menschen pflegt sie mit 20 Kolleginnen.

Seit eineinhalb Stunden ist Barbara unterwegs, im Hochhaus und den Wohnblöcken der Umgebung. Sie hat einer 38-jährigen Schizophrenie-Kranken neurologische Medikamente verabreicht und bei einer völlig verwahrlosten Frau einen Fußverband erneuert, die sich zur Begrüßung erst einmal eine Zigarette in ihrem Bett angezündet hat. Ein besonders intensiver Fall. Schlafanzug ausziehen, waschen, in die Tagesskleidung reinhelfen, den Schlauch eines Sauerstoffgerätes anlegen. Waschmaschine, Wäsche aufhängen, Grießbrei zum Frühstück kochen und servieren und alles wieder abwaschen. Immer gegen die Uhr.

Blutzucker messen gehört zu den häufigsten Tätigkeiten in der häuslichen Pflege.
Blutzucker messen gehört zu den häufigsten Tätigkeiten in der häuslichen Pflege. © Jens Kalaene / dpa

Einer hat sie Milchbrötchen mit Butter und Erdbeermarmelade geschmiert und Kaffee gekocht. Einem 64-Jährigen, dessen Ein-Raum-Wohnung nur mit Nacktpostern dekoriert ist, hat Barbara unter Aufsicht Herz- und Blutdruckmittel verabreicht, die er ohne tägliche Ermahnung nicht nehmen würde. Einer älteren Dame, die nicht mehr schlucken kann, hat Barbara eine Magensonde mit Flüssignahrung gelegt, einer anderen Kompressionsstrümpfe angezogen. Alltag in der häuslichen Pflege. Wie der Schreibkram. Bei jedem Klienten müssen die Leistungen dokumentiert werden.

Gepflegt werden Senioren, Kranke und Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, wie es amtlich heißt. Der jüngsten Statistik von 2017 zufolge kümmern sich in Sachsen rund 1.100 Pflegedienste um gut 60.000 Menschen.

Nummer sieben ist ein Mann, dessen Wohnung unter Barbaras Kolleginnen als Grenzfall des Erträglichen gilt. Sie klingelt, steckt den Schlüssel ins Schloss und öffnet selbst. Routine bei fast allen, die Hilfe brauchen. 35 Menschen wird Barbara in dieser Schicht betreuen, manche mehrmals.

Hinter der Tür im dritten Stock ist es duster. Obwohl es keinen Luftzug gibt, drückt eine Geruchsmischung aus Urin, Schweiß, Kot und abgestandenem Essen auf den Gang. Barbara hat über die Jahre eine Geruchstoleranz entwickelt. „Kuckuck, guten Morgen.“ Einmalhandschuhe übergestreift, tastet sie nach dem Lichtschalter. Rein ins Wohnzimmer, um die Ecke durch die Tür liegt Herr Klaus* im Bett, davor ein Rollstuhl. Er hat eine Krankheit, die das Nervensystem angreift. Barbaras Auftrag: Den Endsechziger wecken, kleine Wäsche, anziehen und in den Rollstuhl helfen. Mehr hat er nicht gebucht, obwohl er den höchsten Pflegegrad und eine ordentliche Rente hat. Zwölf Minuten bleiben dafür.

Damit alte Menschen die richtige Insulinmenge erhalten, helfen ambulante Pflegedienste beim Spritzen des Medikaments.
Damit alte Menschen die richtige Insulinmenge erhalten, helfen ambulante Pflegedienste beim Spritzen des Medikaments. © Franziska Gabbert/dpa

Die Funzel unterm verstaubten Lampenschirm beleuchtet den Raum nur spärlich. Der Boden ist mit Fusseln und Dreckklumpen übersät. Der Teppich flockt, die Farbe ist nicht mehr zu erkennen. Im Wohnzimmerschrank bilden verstaubte Piccolo-Sektfläschen, Glaspokale und angebrochene Zigarettenschachteln ein Ensemble vergangener Zeiten. „Na, wie geht es Ihnen?“ Herr Klaus, bekleidet mit Schlüpfer, Pullover und dicken Wollsocken an den Füßen, nickt. „Was soll schon sein, ist doch ein Tag wie jeder andere.“ Beide lachen.

Professionalität ist wichtig. Egal wie sehr Barbara manchmal selber darunter leidet. Im Auto wird sie später sagen: „Es gibt Menschen, die mag man nicht so sehr, aber man arbeitet mit ihnen, es gibt aber auch viele, mit denen stirbst du mit, weil du sie ins Herz geschlossen hast.“ Und: „Jeder hat das Recht auf seine eigene Verwahrlosung.“ Hochbetagte Senioren seien fast alles Kriegskinder. „Die betteln nicht um Hilfe, die gehen nicht zum Sozialamt, viele leben unter ärmlichen Bedingungen, aber ihre Kinder könnten die Situation ändern.“

Unerschütterlich und freundlich sein, mütterlich-streng zu jenen, die nicht wirklich mitmachen, kumpelhaft bei denen, die Barbara schon allein deshalb respektieren, weil sie Dynamo-Fan ist. Manche Patienten haben Angehörige, die einkaufen und sauber machen. „Für nicht wenige sind wir die einzigen Ansprechpartner und für manche die letzte Station im Leben.“ Nicht jeder kann das akzeptieren.

Barbara hat schon sexuelle Belästigung im Job erlebt, ungewollte Umarmungen etwa, oder „Finger, die plötzlich an einer Stelle waren, wo sie nichts zu suchen haben“. Kleine Rebellionen, Momente der Geringschätzung sind Alltag. „Manche machen demonstrativ den Fernseher laut, zünden sich eine Kippe an oder beschweren sich, dass man im Bild steht, während man sie versorgt.“ Barbara ist Nichtraucherin.

Für einsame Senioren ist Nähe und Fürsorge das wichtigste.
Für einsame Senioren ist Nähe und Fürsorge das wichtigste. © Bernd Thissen/dpa

Nach der Polytechnischen Oberschule wollte sie ins Labor, lernte zu DDR-Zeiten den Beruf der Medizinisch-technischen Laborassistentin. Weil sie schwanger wurde, übernahm das Labor sie nach der Wende nicht. Nach einer zweiten Ausbildung als Krankenschwester wechselte die dreifache Mutter in die Altenpflege.

Herr Klaus hat eine Wunde am Oberschenkel. Barbara entdeckt noch eine Blase. „Bitte umdrehen.“ Der Verband ist aufgerieben. Vorsichtig zieht sie den Mull ab, sprüht Desinfektionsmittel auf die Wunde und klebt sie wieder ab. „Sie müssen aufpassen, ihre Haut ist nicht so gut.“ Herr Klaus knurrt etwas Unverständliches.

Barbara taucht den Waschlappen in eine Wanne. Widerwillig lässt der Mann sich waschen, aber nur im Intimbereich. Und auch das darf Schwester Barbara erst seit zwei Jahren, obwohl sie ihn schon ewig betreut. Sie hat aufgehört, sich zu fragen, wie der Senior den Rest seines Tages gestaltet. Die Zeit drängt. Barbara greift Herrn Klaus unter die Arme, zieht ihn behutsam hoch, bugsiert ihn in die Hose, stülpt Pantoffeln über seine Füße. Dann hievt sie ihn in den Rollstuhl. „Brauchen Sie noch etwas?“. Herr Klaus schüttelt den Kopf.

Eine Etage tiefer wartet Frau Mützel*. Klingeln, aufschließen, Morgengruß. In der aufgeräumten Einzimmerwohnung läuft Schlagermusik. Zwei Kanarienvögel im Käfig zwitschern dazu. Mützel, Mitte 60, schlohweiße Haare, Diabetikerin, drückt die Zigarette aus und strahlt Barbara an. „Na, meine Gute, wie geht es Ihnen?“

Eincremen mit Schmerzgel, Kompressionsstrümpfe anziehen und Medikamente geben gehört zum Alltag in der häuslichen Pflege.
Eincremen mit Schmerzgel, Kompressionsstrümpfe anziehen und Medikamente geben gehört zum Alltag in der häuslichen Pflege. © Jana Bauch/dpa

Blutzucker messen, Insulin spritzen, Tabletten geben. Barbara füllt die Medibox nach Wochentag geordnet auf, guckt, ob die Vorräte auch für die nächste Woche reichen. „Sie müssen sich vom Doktor ein Rezept holen.“ Die alte Dame nickt, erzählt, dass sie nach dem Essen mit der Nachbarin rausgehen will. Barbara hat erlebt, wie sich die Altenpflege über die Jahrzehnte verändert hat. Zu DDR-Zeiten habe es in Dresden zwei Sozialstationen und eine Handvoll Altenheime gegeben. Am schlimmsten war es in den Neunzigern. Zwei etwa 80 Jahre alte Frauen lebten in Abbruchhäusern in Dresden-Löbtau, in Ruinen ohne Dach. „Eine hat nur überlebt, weil dort auch ein paar Alkis wohnten, die ihr immer mal nen Schnaps eingeflößt und ’ne Banane gegeben haben.“ Die Frau war mit ihren Töchtern zerstritten, die sich deshalb nicht mehr um sie kümmerten. „Was sie am Leib trug, war alles, was sie hatte.“ Irgendwann seien die Haare durch eine Strickmütze gewachsen, die die Frau nicht mehr abnahm.

Der kräftezehrende Job zeige ihr vor allem eins: „Man weiß, was auf einen zukommen kann, und das ist nicht sehr erhebend.“ Auch wegen Situationen, die zum Alltag fast jeder mobilen Pflegerin gehören. Wenn Menschen nicht mehr aufmachen. Erst im Spätsommer hatte Barbara so einen Fall. Ein Patient, 55 Jahre alt, bei dem Barbara nur Medikamente gab und nach dem Rechten sah, hatte dem Pflegedienst fürs Wochenende abgesagt. „Eine Freundin von ihm wollte vorbeikommen und Zeit mit ihm verbringen.“ Am Montag danach blieb das Klingeln erfolglos. Vielleicht hatte die Frau den Mann mit zu sich genommen?

Einen Tag später, als wieder kein Mucks aus der Wohnung zu hören war, alarmierte sie Polizei und Rettungsdienst. Als die Feuerwehr die Tür aufgestemmt hatte, seien massenweise Fliegen aus der Wohnung gekommen. „Das war eklig, ich bin da nicht mehr reingegangen.“ Der Mann war wohl schon Freitagabend gestorben und hatte tagelang in der Wohnung gelegen.

Im Hochhaus geht’s mit dem Aufzug in die 8. Etage, klingeln, öffnen, einer 45-Jährigen Herzmedikamente verabreichen, dokumentieren und weiter. Manche Besuche dauern kaum drei Minuten, andere eine Viertelstunde und mehr, je nachdem, was vereinbart ist und was gebraucht wird. Von der Zuckermessung bis zur Alltagshilfe.

Für Pflegerin Barbara sind Menschen wie die 100-jährige Ingeborg Schemainda ein Sonnenstrahl im täglichen Knochenjob.
Für Pflegerin Barbara sind Menschen wie die 100-jährige Ingeborg Schemainda ein Sonnenstrahl im täglichen Knochenjob. ©  Ronald Bonss

13. Etage. Klingeln, öffnen, eine 74-jährige sitzt aufrecht im Bett. Als sie Barbara erkennt, versucht sie schwankend aufzustehen. „Bleiben Sie lieber sitzen“, mahnt die Pflegerin und nimmt ihre Hand. Ein kleiner Stich, Teststreifen mit Blutstropfen in Messgerät. Barbara lächelt die Seniorin an. „6,7 ist ein guter Wert.“ Das Frühstück macht die Frau selbst.

Der nächste ist ein Syrer. Der 49-Jährige sitzt auf der Couch, eine Zigarette qualmt im Aschenbecher, im TV laufen Nachrichten. Er bietet Kaffee an, sie sagt nein. Keine Zeit. Bereitwillig lässt sich der Mann Schmerzmittel und neurologische Medikamente geben. Barbara hat ihn nie gefragt. Sie glaubt, dass er unter Depressionen leidet. Wer weiß, was der Mann erlebt hat. Barbara ist nur mit den Folgen konfrontiert. Drei Etagen höher reagiert ein Mann aufs Klingeln. Als er Barbara sieht, murmelt der 70-Jährige „Scheiße“. Auch hier läuft der Fernseher. Er klagt über Kopfweh. Das Haus wird saniert. Bauarbeiter hätten am Vortag zu lange gebohrt. „Vielleicht haue ich doch bald in den Westen ab.“ Er hat eine offene Wunde am Unterschenkel. „Wie geht es ihnen?“, fragt Barbara und mustert die nässende Stelle. „Normal.“ Tag für Tag wechselt Barbara den Verband.

Mit dem Auto geht es ein paar Straßen weiter. Während Barbara mit einer Hand lenkt, verdrückt sie ein Käsebrötchen, noch ein paar Schlucke aus der Wasserflasche, und die nächste Klientin ist dran. Eine Pause, ein Moment des Ausruhens, der nur ihr gehört, ist selten drin. Es braucht nur eine kleine Verzögerung bei einem Klienten.

Ein Neubau aus den Neunzigern. Die Pflegerin klingelt, schließt auf und eilt die Treppenstufen in die erste Etage hinauf. Der seelische Sonnenstrahl des Tages wartet, Ingeborg Schemainda, im November wird sie 101. Die Seniorin wartet im Wohnzimmersessel. „Kuckuck, hallo junge Frau“, schmettert Barbara zur Begrüßung. Die alte Dame strahlt. Heute ist Badetag. Schemainda braucht Hilfe, aber nur für manche Dinge: Medikamente dosieren, Zucker messen, Insulin spritzen, beim Aussteigen aus der Wanne. An jeder Wand des Wohnzimmers und in den Schränken zeigen Dutzende Bilder eine glückliche Urgroßmutter inmitten der Familie.

Farbe im oft grauen Alltag

Beinahe zärtlich greift Barbara nach der Hand. „Wie geht es heute?“ Ingeborg Schemainda drückt die Hand. „Nix wie Rückenschmerzen“, sagt sie. Barbara legt die Manschette des Blutdruckmessgeräts an. „Wollen Sie vielleicht ein paar Tropfen gegen die Rückenschmerzen?“ Das Messgerät piept. „120 zu 90, fast jungfräulich“, sagt Barbara. Ingeborg Schemainda lacht. Die Schwester misst weiter und geht die Werte durch. „Puls 60, Zucker 10,4.“ Sie guckt die Rentnerin an. Das Frühstück sei süß gewesen.

„Dann kommt jetzt das zweite Frühstück“, sagt Barbara und legt die tägliche Tablettendosis hin. Sie spritzt Insulin und füllt die Medibox für die Woche auf. Zeit zu reden. Ingeborg Schemainda erzählt vom Zahnarzt, dass die Sprechstundenhilfe sie sogar mit dem Auto abgeholt habe. Lange Strecken schafft sie nicht mehr allein, die Treppen ins Erdgeschoss nimmt sie aber noch regelmäßig für einen Spaziergang auf der Straße. Für den Fall, dass etwas passiert, trägt Ingeborg Schemainda ein Armband mit persönlichem Notrufknopf.

Die Seniorin wird in gut einer Stunde in die Wanne steigen. Barbara dreht derweil ihre Runde, von Haus zu Haus, von Etage zu Etage. Spritzen geben, Tabletten verabreichen, Magensonden wieder abklemmen. Bis sie wieder bei Ingeborg Schemainda landet, um ihr aus der Wanne zu helfen.

Die lebenslustige Seniorin, sie ist einer der farbenfrohen Punkte in einem oft grauen und anstrengenden Alltag, die Hoffnung, dass es auch anders ausgehen kann. „Wenn ich auf diese Weise alt werden könnte, wäre das genial.“ Eine Familie, die sich dann um sie kümmert, hat sie.

* Namen geändert