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Seelsorge für Jugendliche per Whatsapp

Joyce Perlitz aus Dresden berät Kinder und Jugendliche bei Krisenchat.de. Es geht um Schulstress, Gewalt, Einsamkeit.

Von Kornelia Noack
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„Ein Gefühl, etwas Gutes zu tun“: Mit ihrem Engagement möchte Joyce Perlitz Jugendliche in ihren Krisen unterstützen.
„Ein Gefühl, etwas Gutes zu tun“: Mit ihrem Engagement möchte Joyce Perlitz Jugendliche in ihren Krisen unterstützen. © Thomas Kretschel; Screenshot: SZ

Anfangs sind es meist leise Hilfeschreie, die jedoch häufig schnell lauter werden. Gesendet von Kindern und Jugendlichen, die gerade mit dem Schulstress nicht klarkommen, die gemobbt, von ihren Eltern geschlagen oder vernachlässigt werden, die unheilbar krank sind oder den ersten schmerzhaften Liebeskummer durchleben. Um die jungen Leute zu schützen, möchte Joyce Perlitz keinen konkreten Fall schildern. Was die Dresdnerin aber als ehrenamtliche Beraterin des Seelsorge-Portals krisenchat.de erlebt, zeigt: Viele Jugendliche durchleben tiefe persönliche Krisen und wissen sich keinen anderen Rat, als anonyme Hilfe im Netz zu suchen. Perlitz möchte sie unterstützen.

Im Frühjahr 2020 ist krisenchat.de online gegangen – gegründet von dem damals 19-jährigen Kai Lanz und einigen Mitstreitern. Mittlerweile rund 300 ehrenamtliche Mitarbeiter aus den Bereichen Psychologie und Sozialarbeit, darunter zehn aus Sachsen, bieten allen zwischen zwölf und 25 Jahren psychologische Hilfe per Chat an – rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche. Krisen kennen keine Sprechzeiten.

„Eine Seelsorge-Hotline ist nicht mehr der Weg“, sagt der Berliner Jungunternehmer und spricht da für seine Generation. „Junge Leute wollen chatten.“ Da die meisten von ihnen ohnehin Whatsapp nutzen, sei der Messenger die einfachste Möglichkeit, um möglichst niedrigschwellig helfen zu können. Tatsächlich habe laut Lanz jeder zweite Jugendliche, der sich im Chat meldet, vorher noch mit keiner anderen Person über seine Probleme gesprochen.

Joyce Perlitz engagiert sich seit sieben Monaten bei krisenchat.de. „Mein Ziel ist es, Kinder und Jugendliche aufzufangen, und zwar in dem Moment, wenn sie das Gefühl haben, sich mit jemandem austauschen zu müssen“, sagt die 25-Jährige, die nach ihrem Studium der Sozialpädagogik derzeit eine Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin am Institut der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie in Dresden macht. „Es gibt häufig extreme Fälle. Nicht wenige Jugendliche berichten von selbstverletzendem Verhalten und sogar Suizidgedanken.“

Zahl betroffener Schüler steigt stetig an

Dass das Beratungsangebot parallel mit Beginn der Pandemie gestartet ist, war Zufall. Kai Lanz und seine Partner haben im vergangenen Frühjahr Abitur gemacht und währenddessen Exclamo gegründet, eine App für Schüler, die damit Hinweise auf Mobbing direkt an Vertrauenspersonen melden konnten. „Als wir loslegen wollten, hat das wegen Corona nicht so einen großen Anklang gefunden. Die Schulen wurden ja gerade alle geschlossen“, sagt Lanz. Also habe man die gesammelten Erfahrungen genutzt und das Projekt krisenchat.de gegründet. Mittlerweile kooperiere man unter anderem mit der Barmer, der Kinderschutzstiftung Hänsel+Gretel und der GesundZusammen-Initiative. „Wir haben natürlich gesehen, was für psychische Kollateralschäden der Corona-Lockdown bei Jugendlichen verursacht hat, und wollten Unterstützung anbieten.“

Angststörungen, Panikattacken, häusliche Gewalt: Zu Beginn dieses Jahres hat die Copsy-Studie (COrona und PSYche) der Uniklinik Hamburg-Eppendorf alarmierende Ergebnisse vorgelegt: Während des ersten Lockdowns hatten 15 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen Ängste und Sorgen, Anfang des Jahres 2021 stieg die Zahl bereits auf 30 Prozent. Und noch immer sind viele Schulen weit entfernt von einem normalen Alltag. Wer hilft den jungen Leuten in dieser Zeit?

„Sich an die Eltern oder Vertrauenspersonen zu wenden, fällt ihnen häufig sehr schwer, denn offen über sein seelisches Befinden zu reden, ist oft mit Scham verbunden“, sagt Manuela Franke, die bereits seit Gründung von krisenchat.de als ehrenamtliche Beraterin tätig ist. Die 51-Jährige ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und betreibt eine eigene Praxis in Dresden. Zwei Stunden pro Woche sitzt sie am Chat. Allein, dass die Jugendlichen sich ernstgenommen fühlen, hilft ihnen, sagt Franke. Zudem sei es wichtig, sie ins Handeln zu bringen. „Ziel ist es, dass sich die Schüler einen Menschen aus ihrem echten Leben suchen, dem sie sich anvertrauen können, ein Geschwisterteil, einen Lehrer oder einen Berater vom Jugendamt“, sagt die Heilpraktikerin. „Vor allem, wenn die Schüler bereits selbstverletzendes Verhalten zeigen, denn damit bauen sie Druck ab, der sich zuvor lange aufgestaut hat.“

Das Wegbrechen der vertrauten Strukturen und der sozialen Kontakte, Homeschooling und die Berge von Hausaufgaben haben viele Schüler zur Verzweiflung getrieben. Das hat auch Joyce Perlitz beobachtet. „In diesen Fällen haben wir dann gemeinsam im Chat versucht, Lösungen zu finden. Wir haben erst einmal sortiert und besprochen: Was hat Priorität? Was kann noch einen Tag warten?“, erklärt die angehende Psychotherapeutin. Viele Schüler hätten sich einfach allein gelassen gefühlt.

Aufklärung über Rechte der Kinder und Grenzen für Eltern

Wer Unterstützung sucht, geht einfach auf die Seite und klickt dort auf „Nachrichten schreiben“. Ein Chat ist per Whatsapp, wahlweise auch per SMS möglich. Die Umgebung sieht aus wie der herkömmliche Whatsapp-Chat, man muss lediglich den Datenschutzbedingungen zustimmen. Anschließend meldet sich ein Krisenberater zurück. „Wir haben ein internes System, bei dem die Fälle anonymisiert reinkommen, ohne Handynummer und ohne Profilbild. Die Berater arbeiten dann im Schichtbetrieb und wechseln sich mit den Antworten ab“, sagt Lanz. Wer neu dabei ist, geht erst einmal zu zweit in einen Chat, um Erfahrungen zu sammeln. Die Berater tauschen sich zudem regelmäßig untereinander über Geschriebenes aus.

Immer häufiger geht es in den Chat-Nachrichten um häusliche Gewalt. In vielen Fällen kümmert sich dann ein spezielles Team für Kindeswohlgefährdung, das gegebenenfalls auch die Polizei oder das Jugendamt hinzu holt. „Unsere Aufgabe ist es auch, die Jugendlichen darüber aufzuklären, was ihre Rechte sind und was Eltern dürfen und was nicht. Was viele zum Beispiel nicht wissen: Ab dem 15. Lebensjahr kann man auch ohne Einverständnis der Eltern eine Therapie beginnen“, sagt Perlitz. In der Regel gebe sie Adressen oder Weblinks weiter, wo die Schüler weitere Hilfe bekommen können.

„Wir verstehen uns nicht als Therapie-Ersatz, sondern ausdrücklich als Krisenintervention und Ergänzung zu ambulanten oder stationären Angeboten“, erklärt Kai Lanz. Der Erfolg gibt dem Projekt recht. „Wir suchen nach wie vor Berater, die uns ehrenamtlich unterstützen möchten“, sagt Lanz. Von der Politik bekomme man bislang leider kaum Hilfe. Dabei müsse nach Ansicht des Jungunternehmers endlich nicht nur über Probleme geredet, sondern auch gehandelt werden.

Die Nachfrage ist jedenfalls enorm. Seit Bestehen des Portals sind nach eigenen Angaben bereits mehr als 1,5 Millionen Chat-Nachrichten ausgetauscht worden. Die meisten Chat-Anfragen würden in den Abendstunden reinkommen. Vier von fünf stammen von Mädchen. „Viele Jungs schämen sich noch immer, Hilfe zu holen – unter dem Motto ,Indianer weinen nicht‘. Mädchen sind offener und wollen kommunizieren“, hat Manuela Franke in den vergangenen Monaten beobachtet.