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Ziehen wir die richtigen Lehren aus Corona?

Die Pandemie-Expertin Caris-Petra Heidel hat Zweifel, ob Deutschland die richtigen Schlüsse aus der Corona-Zeit gezogen hat. Was müsste sich ändern, um nicht wieder die gleichen Fehler zu machen?

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Masken waren jahrelang Alltag, sogar im Dresdner Zwinger. Doch fehlende Vorräte bereiteten anfangs große Probleme.
Masken waren jahrelang Alltag, sogar im Dresdner Zwinger. Doch fehlende Vorräte bereiteten anfangs große Probleme. © ronaldbonss.com

Pandemien von Pest bis Corona sind gesellschaftliche und politische Zäsuren, man kann auch hier von Zeitenwenden sprechen. Die gebürtige Leipziger Medizinhistorikerin Caris-Petra Heidel (68), die lange an der Universität Dresden gelehrt hat, erforschte diese Frage und schrieb nun ein engagiertes Buch darüber, was Menschen aus der Seuchengeschichte lernen können, um nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen.

Frau Heidel, in Ihrem Buch „Eine ansteckende Geschichte“ suchen Sie als Medizinhistorikerin danach, was aus der Geschichte der Seuchen gelernt werden könnte. Warum haben Sie sich die Mühe gemacht?

Es gab in der Geschichte der Menschheit Seuchen und Pandemien wie Pest, Cholera, Typhus, Pocken, Virusgrippe, Aids und Sars. Es gibt sie heute, wie Covid-19 sehr deutlich gemacht hat, nach wie vor, und es wird sie auch künftig geben. Also sollten wir vorbereitet sein.

Gibt es Muster, die bei Pandemien immer wieder auftreten?

Ja, zuerst wird immer ein Sündenbock gesucht. Das heißt, es wird bestimmten Gruppen der Gesellschaft die Schuld für das Auftreten einer Seuche zugeschrieben. Wobei mit dieser Stigmatisierung oftmals gesellschaftliche Ängste erst geschürt werden. Im späten Mittelalter, während der Pestpandemie, waren es vor allem die Juden, im Falle von Aids, das auch als „Schwulenpest“ bezeichnet wurde, waren es die Homosexuellen.

Welche Gründe haben diese Schuldzuweisungen?

Es besteht bei den Maßnahmen zur Gesundheitssicherung ein Interessenkonflikt zwischen Wirtschaft, Gesundheitspolitik und medizinischer Wissenschaft. Bei der Covid-19-Pandemie lagen bereits vor ihrem Auftreten wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen vor, und zwar aus der noch gar nicht so fernen Vergangenheit der Sars-Pandemie von 2002/03, wie und mit welchen Maßnahmen ein effektiver Seuchenschutz funktioniert und eine Coronavirus-Pandemie gestoppt werden kann. Aber sie wurden recht zögerlich genutzt oder verspätet umgesetzt.

Caris-Petra Heidel fragt und gibt Antworten darauf, "Was wir von historischen Seuchen über kommende lernen könn(t)en".
Caris-Petra Heidel fragt und gibt Antworten darauf, "Was wir von historischen Seuchen über kommende lernen könn(t)en". © Franziska Kestel

Welche Maßnahmen meinen Sie konkret?

Als ein Hauptproblem sehe ich die mangelnde Bevorratung von Schutzkleidung, Medikamenten und Materialien. Dass zum Beispiel Schutzkleidung, darunter auch partikelfiltrierende Mund-Nasen-Schutzmasken, immer für den möglichen Fall einer ausbrechenden Seuche ausreichend vorzuhalten sind, ist nicht nur eine Erkenntnis aus der Seuchengeschichte wie etwa der „Spanischen Grippe“, sondern im Nationalen Pandemieplan festgelegt. Wenn aber erst zu einem Zeitpunkt, als die Pandemiewelle schon in Europa angekommen war, festgestellt wurde, dass der Vorrat an Schutzmasken noch nicht einmal für das medizinische Personal ausreicht, dann ist dies Ausdruck sowohl eines behördlich vernachlässigten präventiven Seuchenschutzes als auch einer verfehlten Gesundheitsökonomie.

Ist es nicht deutlich billiger, die betreffenden Materialien bei Bedarf nachzukaufen?

Es dürfte weithin bekannt sein, dass bei großen Seuchen sowohl die Produktion als auch die Lieferketten eingeschränkt oder ganz eingestellt sein können. Für das Gebot der Wirtschaftlichkeit in der Gesundheitspflege ist die Vorhaltung von Schutzkleidung und anderen Materialien aber nur ein Beispiel. Es gibt einen weiteren und schon in der Parallele zu historischen Seuchen auffälligen Aspekt. Wie schon bei der Spanischen Grippe haben sich die Handlungsträger fast ausschließlich auf die „rein“ naturwissenschaftlichen Gesundheitswissenschaften – einst Bakteriologie, nun Virologie, Infektiologie und Epidemiologie – berufen. Allerdings waren eben nicht alle Probleme der Erkennung, Bekämpfung und Verhütung von Krankheiten allein durch die Bakteriologie zu lösen.

Warum ist das so?

In gewisser Weise ist die Medizin Opfer ihrer eigenen Entwicklung geworden. Unter dem Eindruck ihrer bedeutenden naturwissenschaftlichen und technischen Erfolge entstand die Meinung, damit könne das Problem Seuchen grundsätzlich geregelt werden. Dieser Glaube führte einerseits dazu, dass selbst grundlegende Regeln privater Hygiene vernachlässigt werden. Andererseits wurden aber auch bei Maßnahmen der öffentlichen Hygiene die Faktoren der Umwelt-, Arbeits- und Sozialmedizin, die nicht bakteriologisch-virologisch determiniert sind, weniger berücksichtigt oder gar vernachlässigt.

Ein wichtiger Grund für die Corona-Maßnahmen war laut dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn, dass die Bevölkerung eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern müsse. Ist die Bevölkerung tatsächlich dafür verantwortlich?

Der Appell an die Bevölkerung an sich ist nicht zu kritisieren. Das Grundübel lag aber ganz woanders, nämlich als Folge einer forcierten Ökonomisierung des Gesundheitssystems. Zudem entbindet das Seuchenschutzgesetz die staatlichen Entscheidungs- und Handlungsträger weder von einer abgewogenen und begründeten Bestimmung, noch einer genauen Erklärung der Öffentlichkeit, warum und welche Grundrechte in welchem Maße von einer notwendigen und zeitlich begrenzten Einschränkung betroffen sein sollten, zum Beispiel infolge des Lockdowns.

Was muss sich ändern?

Gesundheit ist öffentliches Gut. Die Gesundheitssicherung und die Gesundheitsfürsorge sind staatstragende Ziele eines Sozialstaates. Eine auf Gewinnmaximierung in den Gesundheitsbereichen ausgerichtete Politik widerspricht dem Sozialstaatsgedanken eklatant. Ich bin kein Gesundheitsökonom, aber auch mir ist völlig bewusst, dass die finanziellen und materiellen Ressourcen nicht unendlich sind. Dabei erreichten laut Statistischem Bundesamt die laufenden Gesundheitsausgaben in Deutschland 2020 rund 12,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 2021 im zweiten Corona-Jahr sogar 13,2 Prozent, womit Deutschland von allen 27 EU-Staaten den höchsten Anteil für sein Gesundheitssystem ausgab. Und dennoch ist die Bevölkerung in Deutschland weder gesünder, noch sind die Gesundheitseinrichtungen oder die „Leistungserbringer“ wie das ärztliche und pflegerische Personal zufriedener, im Gegenteil. Es ist also offensichtlich eine Frage der Verteilung der finanziellen Ressourcen und materiellen Güter innerhalb des Gesundheitssystems.

Ist die Privatisierung medizinischer Einrichtungen ein Problem?

Ja. Die forcierte Ökonomisierung des Gesundheitswesens, wofür beispielhaft die Privatisierung von Gesundheitseinrichtungen steht, ist ein Problem. Sogar und ausgerechnet während der Corona-Pandemie wurden Krankenhäuser geschlossen, weil sie wirtschaftlich nicht rentabel wären. Gesundheit und Gesundheitsleistungen dürfen in einem Sozialstaat nicht rein marktwirtschaftlichen Prinzipien unterliegen. Wenn zum Beispiel Krankenhäuser nur wie gewinnorientierte Wirtschaftsunternehmen geführt würden, könnte weder der gesamtgesellschaftliche Auftrag noch das gesundheitspolitische Ziel einer umfassenden, die gesamte Bevölkerung einschließenden Gesundheitssicherung und -fürsorge erfüllt werden.

Pandemien sind bekanntlich globale Phänomene, dennoch gab es bei Corona als eine Gegenmaßnahme die Abschottung der Grenzen. Ist das historisch betrachtet sinnvoll?

Nach historischen Zeitzeugenberichten, erstmals für Venedig um 1374, waren Grenzschließungen der Stadt im Sinne eines temporären Einreise- und Einfuhrverbots von Personen und Waren, die möglicherweise kontaminiert waren und die Seuche (Pest) einschleppen konnten, erfolgreich. Auch dass große Teile Polens von der Pestpandemie im späten Mittelalter, dem „Schwarzen Tod“, verschont geblieben sind, wird vor allem der vorausschauenden Grenzschließung von König Kasimir I. zugeschrieben. Doch eine langfristige und generelle Abschottung war schon deshalb nicht möglich, weil die Versorgung gewährleistet werden musste. Umso mehr ist heute eine langfristige Grenzschließung eines Landes sinnfrei, da es effiziente Frühwarn- und Überwachungssysteme, Kontrollmöglichkeiten und Tests zur frühzeitigen Feststellung einer Infektion gibt.

Haben Sie den Eindruck, dass nach der Corona-Pandemie die Regierenden richtige Schlussfolgerungen gezogen haben?

Bisher sehe ich nicht, dass die be- und erkannte Misere um die mangelhafte oder fehlende Bevorratung von zum Beispiel Mundschutz oder Schutzkleidung zu praktischen Konsequenzen geführt hat. Was als richtige Schlussfolgerung nach Corona bewertet werden kann und hervorzuheben ist, sind die im Eckpunkte-Papier des Bundesgesundheitsministeriums zur Krankenhausreform formulierten Ziele: Das überholte System der Fallpauschalen soll beendet und damit eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung gewährleistet werden, bei der die Qualität und nicht mehr die Quantität bestimmend ist. Wenn diese gesundheitspolitischen Ziele auch praktisch umgesetzt sowie auf weitere Bereiche des Gesundheitswesens übertragen werden, dann gäbe es bei der nächsten Pandemie recht gute Chancen, dass von einer Überlastung oder gar dem „Zusammenbruch“ des Gesundheitssystems nicht mehr die Rede sein muss.

Das Gespräch führte Peter Ufer.

Buchtipp: Caris-Petra Heidel: Eine ansteckende Geschichte. Was wir von historischen Seuchen über kommende lernen könn(t)en. Leykam-Verlag, 320 Seiten, 25,50 Euro