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Görlitz: 88-Jährige lebt seit fast 60 Jahren in derselben Wohnung

Erika Jährig zog Mitte der 60er Jahre in ihre Wohnung in Weinhübel - und blieb. Sogar die originale Einbauküche hat sie noch. Ihre Geschichte erzählte sie der SZ.

Von Susanne Sodan
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Erika Jährig in der Küche ihrer Wohnung. Die Einbauküche - bald 60 Jahre alt - ist sogar im Mietvertrag vermerkt.
Erika Jährig in der Küche ihrer Wohnung. Die Einbauküche - bald 60 Jahre alt - ist sogar im Mietvertrag vermerkt. © Martin Schneider

Die Küche hat Erika Jährig Ende der 80er Jahre einer Generalüberholung überzogen. Stück für Stück hatte sie damals den Lack vom Holz geschliffen, mit Sandpapier. "Eine Maschine hatte ich ja nicht." Jetzt müsste sie die Einbauküche wohl noch mal restaurieren, sagt Erika Jährig und deutet auf den Lack neben den Griffen der Schiebetüren. Schon etwas abgegriffen, findet sie. "Aber ich werde es wohl nicht mehr machen." Immerhin ist Erika Jährig inzwischen 88 Jahre alt. Und die Küche, die wird bald 60. Neu war sie, als Erika Jährig einzog - ebenfalls vor fast 60 Jahren.

"Am 15. August 1966 hat mein Mann damals die Wohnung über den Betrieb bekommen". Der Betrieb, das war damals das Elektroschaltgerätewerk Rauschwalde. Die Wohnung: Zwei Zimmer auf der heutigen Stauffenbergstraße in Weinhübel - mit Einbauküche. Heute wird die Wohnung von dem Görlitzer Großvermieter Kommwohnen verwaltet - und Erika Jährig gehört zu den langjährigsten Mieterinnen. Ausziehen kommt für sie nicht infrage. "Wo sollte ich denn hin?", fragt sie. Verwandte leben nur noch sehr wenige. Einzige Alternative wäre ein Heim. Die Wohnung bedeute für sie, "dass ich selbstständig bleiben kann". Solange es geht, will sie bleiben. Und noch geht es.

Vor vier Jahren musste Erika Jährig zu einer Rücken-OP. "Danach waren die Rückenschmerzen weg", allerdings kamen Herzprobleme. Unter Belastung wird es mit der Luft schwierig. Schwere Wasserkästen lässt sie sich daher inzwischen liefern. Und ihre Wäsche trocknet sie auf dem Balkon, sodass sie nicht die Treppen so oft runter und hoch muss. Aber sonst: "Ich bin auch jetzt noch froh, dass ich hier gelandet bin." Ärztemangel macht sich zwar auch in Görlitz bemerkbar, aber noch sind die Ärzte, die Erika Jährig braucht, in der Stadt zu finden, und sie hat nicht wie Bewohner andernorts im Landkreis lange Fahrtwege. "Und schauen Sie raus." Schön grün, das hat ihr immer in Weinhübel gefallen.

Bis heute froh, in Görlitz gelandet zu sein

Überhaupt, im Grünen sei sie immer gern gewesen, sagt sie, und erinnert sich an ihre Kindheit und Jugendzeit, als sie oft im Wald und auf Wiesen gewesen sei, um zum Beispiel Kräuter zu sammeln: Brombeerblätter, Spitzwegerich, Schafgarbe. Erika Jährig stammt aus Kreischa bei Freital. 1942, während des Zweiten Weltkrieges begann ihre Schulzeit. In NS-Jugendorganisationen musste sie damals nicht, "das war auf dem Land zum Glück nicht so durchstrukturiert".

Doch Erika Jährig hat auch miterlebt, wie viele Dresdner damals ins Umland flüchteten, auch nach Kreischa. Sie hat miterlebt wie Lebensmittel knapp waren. Dinge wie das Kräutersammeln und Einwecken diverser Lebensmittel gehörten für sie einfach zum Alltag. Und auch in den Nachkriegsjahren blieb die Versorgungslage schwierig. Erika Jährig erinnert sich an die Bezugsmarken. "Selbst wenn man die hatte, beim Fleischer und bei der Molkerei musste man sich trotzdem vorher anmelden, wenn man was haben wollte. Unsere Kleidung haben wir selbst genäht." Es gibt noch einen Gegenstand in der Wohnung, der älter ist als die Küche: eine Nähmaschine von 1934. Die ist bis heute noch hin und wieder im Dienst, "wenn ich was zu reparieren habe".

"Es war ein hartes Leben, das hat mich geprägt"

Ihr Vater überlebte zwar den Zweiten Weltkrieg, starb aber kurz nach seiner Rückkehr. Zurück blieben Erika Jährig mit ihrer Mutter. "Es war ein hartes Leben, das hat mich geprägt." Und doch entschied sie sich, nochmal die Schulbank zu drücken. Sie begann zu Beginn der DDR-Zeit eine Lehre und besuchte parallel die Abendschule in Dresden. Von der DDR spricht Erika Jährig immer nur als die SED-Zeit. Andererseits: "Zu der Zeit gab es für Mädels alles": Sie absolvierte eine Lehre zur Werkzeugmacherin.

Von ihrer Mutter habe sie, vor allem für die Abendschule, keine Unterstützung erfahren. "Ich musste mich alleine durchkämpfen. Das Problem war, für Schule gab es kein Geld." Die Mutter war als Vollwaise aufgewachsen. Mit welchen Sorgen und Erlebnissen sie umzugehen hatte, so genau hat Erika Jährig das nie erfahren. Was blieb, war immer der Wunsch, finanziell abgesichert zu sein. Dennoch ging Erika Jährig einen anderen Weg. Nach ihrer Ausbildung schloss sie in Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt, ein Studium im Maschinenbau an. Und lernte ihren späteren Mann kennen.

Manchmal kommt Einsamkeit hoch

Er stammte aus Seifhennersdorf und wollte nach dem Studium zurück in die Region. Erika Jährig fand eine Stelle bei Robur in Zittau, er in Görlitz beim Elektroschaltgerätewerk. Im Mai 1966 heirateten sie, suchten eine eigene Wohnung, die sich in Görlitz fand. Hier arbeitete Erika Jährig dann ebenfalls beim Elektroschaltgerätewerk. "Wir waren beide in der Technik." Oftmals habe ihr Wohnzimmer daheim mit Zeichenapparaten und dergleichen vollgestellt, eher wie ein Büro ausgesehen. Dann kam die politische Wende. "Da hatte ich großes Glück." Ziemlich genau zur Wendezeit konnte Erika Jährig in Vorruhestand gehen. Das Schicksal vieler anderer, die in den 1990er Jahren ihre Arbeit verloren, musste sie nicht teilen.

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"Ich hatte manchmal im Leben Glück." Auch mit der Wohnung in Weinhübel. In dem Ortsteil hat sie nun den Großteil ihres Lebens verbracht, kann viel darüber erzählen, wo früher was war. In Altweinhübel habe es früher mehr kleinere Geschäfte gegeben, die vermisse sie ein bisschen. Und manchmal, sagt sie, fühle sie sich wie der letzte Mohikaner. Ihr Mann starb bereits vor 26 Jahren. Viele einstige Nachbarn, Arbeitskollegen, Bekannte hat sie schon überlebt. Dann winkt sie ab. "Ich kann doch zufrieden sein, was will ich mehr?" Und der allerletzte Mohikaner ist sie nicht: Laut Kommwohnen wohnt in Weinhübel eine weitere Frau schon rund 60 Jahre, und ein Mann schon seit fast 80 Jahren in der Südstadt.