Stirbt das Schlesische Himmelreich aus?

Wenn Ursula Kahl das "Schlesische Himmelreich" zubereitet, köchelt ein Stück Kassler im Wasser, zusammen mit einem halben Pfund Trockenobst. "Das muss jetzt eine Weile ruhen", sagt die 83-Jährige, "und morgen kommen dann die Klößchen hinzu, so wird die Brühe sämig."
Original: Schlesisches Himmelreich als Eintopf
Ursula Kahl wurde vor dem Zweiten Weltkrieg in Rothwasser, heute Czerwona Woda, ein Stück nordöstlich von Görlitz geboren und 1945 mit ihrer Familie von dort vertrieben. Heute lebt sie mit ihrem Mann schon lange im Görlitzer Stadtteil Rauschwalde. Doch manchmal kocht sie noch das "Schlesische Himmelreich", dieses traditionelle Gericht mit Fleisch und Backobst, das die Schlesierin an früher, an zu Hause erinnert.
"Wenn wir in die Gaststätte gehen, bin ich aber fast immer enttäuscht, dass es nicht mehr original zubereitet wird", sagt Ursula Kahl. Dort werde das Himmelreich auf einem flachen Teller serviert, mit großen Klößen und einer Backobstsoße zu einer oder zwei Fleischscheiben. Original sei es aber ein Eintopfgericht mit klein geschnittenem Kasslerfleisch, magerem Räucherbauch oder Räucherrippchen, Trockenobst und kleinen Kartoffelklößchen.
Das Ganze werde in einem tiefen Teller serviert und mit Löffel und Gabel gegessen. "Ich habe auch schon erlebt, dass Schweinelende oder Pökelfleisch verwendet wurde", sagt Ursula Kahl, "aber das passt gar nicht, geräuchert muss das Fleisch schon sein." Und das Obst müsse noch "etwas Biss" haben.
Restaurants bereiten Gericht bewusst anders zu
Die Görlitzer Restaurants haben allerdings ihre Gründe, warum sie das Schlesische Himmelreich nicht genauso zubereiten wie Ursula Kahl. "Wenn man es so macht, sieht es aus wie Kesselgulasch", sagt Paul Otto, Inhaber des Restaurants Destille in der Görlitzer Altstadt. "Doch in der modernen Gastronomie möchte der Koch ein Künstler sein, der sich an der Tradition zwar orientiert, aber ein eigenes Gericht gestaltet, das auch schön aussieht."
Deshalb werden in der Destille zwei Kasslerscheiben mit Äpfeln, Pflaumen und Aprikosen in einer hellen Sauce serviert, die Klöße liegen daneben. Vor allem Schlesier, die das Gericht von früher kennen, bestellen hier das Himmelreich. Oder Touristen, die neugierig sind. "Beliebter", sagt Paul Otto, "ist allerdings die Rindsroulade mit Klößen und Rotkraut."
Auch Robert Chylla, Inhaber der Schankwirtschaft "Zur Schwarzen Kunst" auf der Neißstraße, ist nicht begeistert von der Eintopf-Variante. "Wenn man sich das anschaut, liegt die Antwort auf der Hand, warum wir es anders zubereiten." Kassler gehört in der Schwarzen Kunst unbedingt dazu. "Aber das wird bei uns nicht gekocht, sondern gebacken, und verleiht dem Gericht damit eine besondere Note."
Touristen neugierig auf himmlische Speise
Statt Trockenobst verwendet der Koch Dörrobst mit leichter Räuchernote. Fleisch, Klöße, Obst und Soße werden auf einem flachen Teller so angerichtet, dass man die einzelnen Komponenten gut unterscheiden kann. Nachgefragt werde das Himmelreich nahezu täglich. "Aber es liegt komplett in touristischer Hand", sagt Robert Chylla. Höchstens ein Prozent der Görlitzer frage danach.
Das Café 1900 am Obermarkt gehört ebenfalls zu den Restaurants, bei denen das Schlesische Himmelreich auf der Speisekarte steht. "Ich kenne das Gericht noch von meiner Mutter", sagt Café-Inhaber Gerd Bürger, gebürtiger Görlitzer. "Und ich bereite es so zu, wie sie es gemacht hat." Das heißt mit einer Kasslerscheibe, mittelgroßen Klößen und einer Soße aus Backobst. Als Kind habe ihn immer der Name fasziniert: Himmelreich. "Das geht auch vielen Touristen so", sagt Gerd Bürger. "Auch bei mir sind es vor allem Gäste der Stadt, die erfahren möchten, was sich dahinter verbirgt."

Michael Hoffmann, Inhaber des "Dreibeinigen Hund" auf der Büttnerstraße, hat das Schlesische Himmelreich früher angeboten, sich aber inzwischen davon verabschiedet. "Es überzeugt mich nicht", sagt er, ob original oder abgewandelt. Schlesien sei groß gewesen, "und überall wurde das Gericht anders zubereitet, in Hunderten Varianten." Letztlich sei es immer ein Gericht in kargen Zeiten gewesen, wenn es kein frisches Obst mehr gab und nur noch etwas Räucherfleisch da war. "Hatte man keinen Aprikosenbaum im Garten, wurden auch keine trockenen Aprikosen verwendet." Von einem "Original" könne man also nicht sprechen.
Schlesische Gerichte treffen Geschmack nicht mehr
In jedem Fall sei die schlesische Küche eine sehr alte Küche. "Und manche Gerichte treffen heute unseren Geschmack nicht mehr", sagt Michael Hoffmann. Das treffe zum Beispiel auch auf die traditionellen schlesischen Mohnklöße zu, eine geschichtete Nachspeise aus gebrühtem Mohn, Weißbrot, Milch, Rosinen und wenig Zucker. "Durch Milka sind wir heute eine andere Süße gewöhnt", sagt Hoffmann, "so geraten manche alten Gerichte allmählich in Vergessenheit."
Die schlesischen Mohnklöße sind natürlich auch Ursula Kahl aus Rothwasser bekannt. "Aber viele, die sie ausprobieren, sind enttäuscht", sagt sie, "weil sie nicht wissen, dass sie den Mohn vor dem Brühen mahlen müssen." Ähnlich sei aus ihrer Sicht auch das Schlesische Himmelreich kein unansehnlicher Mansch, wie manche sagen. "Man muss nur wissen, wie man es zubereitet." Sind die Mohnklöße ein Gericht, das am besten in der Weihnachtszeit schmeckt, so passe das Schlesische Himmelreich gut in den Herbst, der jetzt gerade beginnt.