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Ein Eierlikörchen gehört dazu

Dorothea Eckert feiert ihren 100. Geburtstag. Sie ist die älteste Bürgerin in Neißeaue - und hat einen Grund für ihr hohes Alter.

Von Steffen Gerhardt
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Dorothea Eckert aus Deschka wird am Sonnabend 100 Jahre alt. Sie ist die älteste Einwohnerin der Gemeinde Neißeaue. Hier auf dem Sofa mit Sohn Siegfried.
Dorothea Eckert aus Deschka wird am Sonnabend 100 Jahre alt. Sie ist die älteste Einwohnerin der Gemeinde Neißeaue. Hier auf dem Sofa mit Sohn Siegfried. © André Schulze

Ein Buch, das sich Dorothea Eckert immer wieder gern anschaut, ist mit dem Titel "Penzig" versehen. Darin sind alte Ansichten ihrer einstigen Heimatstadt, dem heutigen polnischen Piensk, abgebildet. Fotografien, die alle vor 1945 entstanden sind. Zu einer Zeit, als Dorothea Eckert 1927 als Sechsjährige mit ihrer Familie aus Siegersdorf, heute Zebrzydowa, im damaligen Kreis Bunzlau nach Penzig gezogen war.

Beim Betrachten der Fotos kommen ihr die Erinnerungen wieder ins Gedächtnis. Auch mit ihren 100 Jahren, denn so alt wird die kleine Frau an diesem Sonnabend. Für die Gemeinde Neißeaue ist das etwas Besonderes. Die Deschkaerin ist seit Langem die einzige Einwohnerin, die die 100 erreicht hat. Gefeiert wird, soweit man das in dieser Corona-Zeit darf, in Familie zu Hause. In jenem Haus unweit der Neißebrücke, das ihr Vater Anfang der 1930er-Jahre bauen ließ. Damit schaffte sich die Familie ihr eigenes Zuhause. Dass ihr Vater in Deschka und nicht in Penzig baute, führt Dorothea Eckert darauf zurück, dass das Bauland westlich der Neiße viel günstiger war als östlich von ihr.

Drei Generationen unter einem Dach

Anfang der 19930er-Jahre bauten Dorothea Eckert ElternFelix und Emma Bunzel ihr eigenes Heim in Deschka, unweit der Neißebrücke. Damit blieb die Verbindung in ihre Heimatstadt Penzig bis 1945 erhalten.
Anfang der 19930er-Jahre bauten Dorothea Eckert ElternFelix und Emma Bunzel ihr eigenes Heim in Deschka, unweit der Neißebrücke. Damit blieb die Verbindung in ihre Heimatstadt Penzig bis 1945 erhalten. © Repro: André Schulze

Es werden neun Jahrzehnte, dass Dorothea Eckert in dem Haus ihrer Eltern wohnt. Inzwischen teilen sich drei Generationen auf drei Etagen in das Haus. Ihr Sohn Siegfried wohnt mit seiner Frau und den drei, inzwischen erwachsenen Kindern mit unter dem Dach. Und das ist gut so. "Nach zwei schweren Knochenbrüchen, einer erst im vergangenen Jahr, ist unsere Mutter ein Pflegefall geworden, die Betreuung rund um die Uhr braucht", erzählt Siegfried Eckert. Die Pflege teilt die Familie unter sich auf, wobei die Schwiegertochter des Hauses die meiste Arbeit übernimmt.

Vor Stürzen ist Dorothea Eckert im hohen Alter nicht gefeit, obwohl sie ihr Leben lang immer in Bewegung war. Rad fahren und sich im Winter die Ski anschnallen, das gehörte bei ihr einfach dazu. Auch die wiederentdeckte Reiselust. Die Luft der Nordsee hat sie bereits als 14-Jährige geschnuppert, als sie auf Sylt ihr Landjahr auf einem Bauernhof absolvierte. Anfang der 1990er-Jahre ist sie mit ihrem Sohn nach Sylt gefahren und hatte Zwischenstation in Orten wie Büsum gemacht, in denen sie vor 60 Jahren als junges Mädchen war. "Wir haben sogar die Bauernwirtschaft gefunden, auf der sie einst als Erntehelferin arbeitete", erzählt Sohn Siegfried. Die Zeit an der Nordsee bleibt unvergessen, noch heute erzählt Dorothea Eckert gern davon. Weniger hingegen berichtete sie über ihre Flucht aus Deschka vor der anrückenden Roten Armee. Ihr Treck führte sie südlich bis ins Zittauer Gebirge. Sie konnte aber in ihrer Heimatregion bleiben und bald wieder in das Haus der Familie zurückkehren.

Das Reisen für sich entdeckt

Dorothea Eckert zusammen mit ihrem Mann Adolf in einer undatierten Aufnahme. Adolf Eckert arbeitete als Betriebstischler im Waggonbau Niesky.
Dorothea Eckert zusammen mit ihrem Mann Adolf in einer undatierten Aufnahme. Adolf Eckert arbeitete als Betriebstischler im Waggonbau Niesky. © Repro: André Schulze

Von zwei Schicksalsschlägen blieb Dorothea Eckert nicht verschont. In ganz jungen Jahren verlor sie ihre Schwester, die mit einer Behinderung zur Welt kam. Auch ihr erstes Kind, Tochter Christine, erlebte den Schulanfang nicht, weil sie vorher an einer Lungenembolie verstarb. Zu einem Zeitpunkt, als auch Dorothea Eckert ihre Mutter verloren hatte. Das war 1961. Davon ließ sie sich nicht unterkriegen, auch nicht vom Tod ihres Mannes im Jahr 1987. Ihre Lebensgeister hielten sie wach und als Witwe kam Dorothea Eckert auf die Idee des Reisens, vor allem, als die Grenze wieder offen war. Sie reiste mit dem Bus durch den deutschsprachigen Raum und wiederholt auf Sylt, wo sie auch zur Kur war. "Sie liebte das Reisen und war viel unterwegs. Ihre Erlebnisse teilte sie gern mit ihren Mitmenschen", erzählt Sohn Siegfried, der Jahrgang 1960 ist. Er erinnert sich noch gut daran, als seine Mutter plötzlich den Wunsch hatte, mit ihm zum Motorrad- Grand-Prix ins slowakische Brno zu reisen. Das war 1976 - und seine Mutter 55 Jahre alt.

Nach der Wende entdeckte sie ihre frühere Heimatsstadt wieder. Dorothea Eckert durfte auf keinem Treffen der "Penziger" fehlen, das jedes Jahr in Deschka stattfand und mit einem Ausflug nach Piensk verbunden war. Denn dort hat sie als junge Frau ihr erstes Geld verdient. Zunächst in der "Reichsdrogerie Lehmann", später in dem Glashüttenwerk der Gebrüder Putzler. Zur damaligen Zeit eine von sieben Glashütten in Penzig. Dort stand sie aber nicht am Glasofen, sondern am Kochherd, als Beiköchin in der Werksküche. Nachdem die Ländergrenzen neu gezogen waren, wohnte die Deschkaerin für einige Jahre in Görlitz. Arbeitete dort weiterhin als Küchenhilfe im Loenschen Gut, bevor sie den Beruf wechselte und als Spulerin in der Strumpffabrik in Görlitz anfing. Aber die Gastronomie lag ihr besser, sodass Dorothea Eckert in die Volksschwimmhalle der Neißestadt wechselte und als Kaffeeköchin die Badegäste beköstigte. Bis zur Rente blieb sie ihrem Kaffeeautomaten treu.

Es ist viel passiert in den 100 Jahren, auch politisch. Dorothea Eckert hat vier Gesellschaftsformen erlebt: Von der Weimarer Republik über das Hitlerreich, den Sozialismus bis hin zur Marktwirtschaft. Dass sie ein dreistelliges Alter erreicht hat, kann sie sich so nicht erklären. "Ich lebe nicht anders als meine Mitmenschen", sagt sie. Aber vielleicht macht es der kleine Unterschied: "Ein Gläschen Eierlikör am Mittag und eines abends gehören für mich einfach dazu." Damit steht fest, mit welchem Getränk die betagte Seniorin an ihrem 100. Geburtstag anstoßen wird.

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