Görlitz
Merken

Kriegsende: Die schlimmsten Tage von Ludwigsdorf

Über Jahre haben sich Ehrenamtliche für die Sanierung der Kriegsgräber in Ludwigsdorf engagiert. Sie wollen erinnern - und mahnen. Denn die Geschichten dahinter sind teils grauenvoll.

Von Susanne Sodan
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Manfred Trost vom Heimatverein Ludwigsdorf steht vor einem der Sammelgräber - Hier sind auch viele zivile Opfer bestattet.
Manfred Trost vom Heimatverein Ludwigsdorf steht vor einem der Sammelgräber - Hier sind auch viele zivile Opfer bestattet. © Martin Schneider

Betritt man den Friedhof Ludwigsdorf, fällt zuerst eine große Gedenkplatte auf. Sie liegt vor einer mit Hyazinthen geschmückten Stele. 72 Namen von Männern aus Ludwigsdorf, Klingewalde und Ober-Neundorf stehen darauf - ein Gedenken für die Soldaten aus den Ortschaften, die während des Zweiten Weltkrieges ums Leben kamen. Doch das ist nicht alles. Spaziert man über den Friedhof, findet man zum Beispiel das Grab eines Mannes, der am 7. Mai 1945 im Alter von 92 Jahren starb - es ist als Kriegsgrab gekennzeichnet. Ebenso das Grab einer Familie: Der Vater starb am 10. Mai, die Mutter und die beiden Töchter, 12 und 14 Jahre alt, am 9. Mai. Ein großes Sammelgrab findet man. Hier sind Soldaten bestattet, doch auch viele zivile Opfer.

Wenn die Flucht im Tod endete

„Viele Menschen flohen ja damals aus dem Osten vor der heranrückenden Roten Armee über die Neiße“, sagt Manfred Trost vom Heimatverein Ludwigsdorf/Ober-Neundorf. Am 7. und 8. Mai 1945 hatten sowjetische Truppen die Ortschaften erreicht. So waren wiederum auch Ludwigsdorfer weiter nach Westen geflohen, manche kehrten in den Tagen und Wochen darauf zurück. Jedenfalls blieb das Sammelgrab noch eine ganze Weile leicht zu öffnen, schildert Manfred Trost. Für über 100 Geflüchtete und Einwohner, die an Erschöpfung oder Krankheiten wie Typhus ums Leben kamen, "darunter auch Kinder".

Wo diese Kriegsgräber auf dem Friedhof Ludwigsdorf sind, wussten die älteren Einwohner immer, erzählt Evelin Mühle, Leiterin des Städtischen Friedhofs Görlitz. Doch der Zustand der Grabanlagen „hat zu wünschen übrig gelassen“, formuliert es Manfred Trost. Über Jahre setzten er, der Heimatverein und Evelin Mühle sich für die Sanierung ein. „Wir wollen mit dem Erhalt der Gräber Erinnerung und Mahnung verbinden", sagt Manfred Trost.

Es war kein leichter Weg. Die Finanzierung der Sanierung klappte über die Landesdirektion in Chemnitz. Der Heimatverein recherchierte zu den Geschehnissen in den Tagen rund um den 8. Mai in Ludwigsdorf, und zu den Namen und Schicksalen der Toten.

  • Hier können Sie sich für unseren kostenlosen Görlitz-Niesky-Newsletter anmelden.

Das Bundesarchiv half

Die Unterlagen aus Ludwigsdorf seien eigentlich sehr gut gewesen, doch manchmal passten Namen und Daten aus verschiedenen Quellen, etwa von Friedhofsverwaltung und Kirchenbüchern, nicht recht zusammen. So wandten Trost und Mühle sich an die WASt, früher die sogenannte Wehrmachtsauskunftsstelle, heute eine Abteilung des Bundesarchives, um mehr Klarheit zu schaffen. „Das muss schon stimmen", sagt Manfred Trost. „Es war eine Gemeinschaftsarbeit.“ Doch die ging so schnell nicht von der Hand. Auch bürokratische Probleme zogen die Sache in die Länge und die Kosten waren gestiegen. „Zum Schluss haben wir es aber geschafft“, sagt Evelin Mühle.

Im Herbst wurde die Sanierung abgeschlossen. „Jetzt jährt sich der Todestag von Vorfahren vieler Familien in der Region", sagt sie. "Es sind teils sehr dramatische Geschichten, die dahinter stehen." Der Mann, der im Alter von 93 Jahren starb, war Georg August Demisch vom Gut Demisch in Ludwigsdorf, „es war eines der größten Güter damals, zu dem auch das Kalkwerk zählte“, erklärt Manfred Trost. Demisch soll zur Jagd gegangen sein. Warum er das ausgerechnet an dem Tag tat, als Ludwigsdorf eingenommen wurde, wer weiß. Die Flinte, die er dabei hatte, soll ausgereicht haben, dass sowjetische Soldaten ihn erschossen.

Geschichten, über die lange niemand sprach

Von der Geschichte hinter dem Familiengrab gibt es mehrere Versionen. Fest steht wohl, dass sowjetische Soldaten die Frauen der Familie, laut Trost die Mutter und die ältere Tochter, vergewaltigten. Dass Geschichten wie diese in Vergessenheit gerieten oder überhaupt nicht bekannt wurden, „hat sicher auch damit zu tun, dass es in der DDR ganz schwer war, darüber zu sprechen“, sagt Evelin Mühle. Schließlich war die Sowjetunion der große Bruder - der als Befreier galt und deren Völker Millionen Opfer nach den sechs Jahren des Weltkrieges zählte.

Dass darüber nicht öffentlich gesprochen wurde, ist ein Phänomen, über das erst kürzlich auch Bestseller-Autorin Christiane Hoffmann in Görlitz bei den Literaturtagen sprach. Die Ungeheuerlichkeit des Krieges, den Hitler-Deutschland vom Zaun brach, der 50 Millionen Menschen das Leben kostete, der das europäische Judentum fast vollständig ausrottete und Menschen wegen ihrer Herkunft, sexuellen Orientierung oder politischen Haltung unter grausamen Bedingungen in Konzentrationslagern leiden und sterben ließ - all das stand zu Recht zunächst im Vordergrund der Aufarbeitung. Doch die zweite und dritte Nachkriegsgeneration in Deutschland kann nun auch unbelasteter über die Leiden ihrer Eltern und Großeltern berichten, ohne die Geschichte umzudeuten.

Sanierung wird am Sonntag gewürdigt

Am Sonntag wird die Sanierung der Kriegsgräber gewürdigt. Die Gedenkveranstaltung beginnt 12.30 Uhr. Unter anderem werden Oberbürgermeister Octavian Ursu, Pfarrer Hans-Albrecht Lichterfeld, Evelin Mühle, der Heimatverein und Dirk Reitz vom Landesverband des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge teilnehmen. „Es ist sehr wichtig, dass wir erinnern an die Konsequenzen, die ein Krieg bedeutet, darunter Flucht und Vertreibung", sagt Manfred Trost.

Wer die Frauen in dem Ludwigsdorfer Grab tötete - wahrscheinlich der Vater auf Wunsch der Frauen, nimmt Manfred Trost an. Fest steht wohl auch, dass der Vater ein Grab für seine Familie aushob und dann versuchte, sich selbst zu töten. „Nachbarn sollen den schwer verletzten Mann entdeckt haben. Sie wussten, dass die Familie da war, aber es war so still um das Haus.“ Die Nachbarn rannten nach ihrer Entdeckung zur sowjetischen Kommandantur. Für den Mann war wohl nichts mehr zu tun, „er wurde erschossen“.