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Kamenzer Familie kämpft sich durch Ämter-Dschungel

Ein Mann aus Kamenz ist seit der Geburt geistig eingeschränkt. Ein neuer Service der Familienkasse soll in diesen Fällen helfen. Doch die Eltern erleben das Gegenteil.

Von Reiner Hanke
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Marcus aus Kamenz ist seit einer Hirnhautentzündung schwer geistig eingeschränkt. Vater Karlo Pohlink kritisiert neue bürokratische Hürden bei der finanziellen Unterstützung.
Marcus aus Kamenz ist seit einer Hirnhautentzündung schwer geistig eingeschränkt. Vater Karlo Pohlink kritisiert neue bürokratische Hürden bei der finanziellen Unterstützung. © Anne Hasselbach

Kamenz. Marcus schaut immer wieder nervös auf die Armbanduhr. Vater Karlo Pohlink erklärt: „Seine Tagesstruktur muss wirklich von A bis Z stimmen.“ Nichts dürfe schieflaufen, sagt er, während die Kamenzer Rathausuhr zwölfmal schlägt: Mittagessen zum Beispiel muss Punkt 12.20 Uhr auf den Tisch, Abendbrot auf die Minute 18.10 Uhr. Früher sei Marcus manchmal regelrecht ausgerastet, wenn irgendetwas aus der Reihe kam. Neue Medikamente würden jetzt helfen, die Emotionen zu beruhigen.

Das Sprechen fällt Marcus schwer. Er sei wie ein Sechsjähriger gefangen im Körper eines Erwachsenen. Man habe der Familie sogar geraten, den Sohn in eine Spezialeinrichtung zu geben: „Aber wer gibt seine Kinder schon gern weg. Marcus würde kaputtgehen.“

Marcus ist 33 Jahre alt und geistig schwerstbehindert. Trotzdem sei Rätseln die Lieblingsbeschäftigung – am besten Sudoku. „Er löst es auf seine Art“, sagt der Vater. Für den Sohn da zu sein, ist für die Eltern das Wichtigste. Doch sie fragen sich: Warum machen es uns Ämter und Behörden so schwer? Immer wieder haben sie mit Bürokratie zu kämpfen. Gerade bringt der Paragrafendschungel sie wieder zur Verzweiflung.

Kritik an mangelnder Bürgernähe

Vater Pohlink hat einen Wust von Anträgen und Bescheiden ausgebreitet. So erhält Marcus 250 Euro Kindergeld, voraussichtlich bis ans Lebensende. Das ist eine Säule der finanziellen Absicherung. Dazu soziale Grundsicherung, weil das Kindergeld nicht reichen würde, um den nötigsten Lebensunterhalt inklusive einer kleinen Wohnung zu bestreiten. Das macht es kompliziert.

Bricht eine Säule weg, droht eine finanzielle Notlage. Deshalb meldet sich der Vater nun zu Wort. Denn: Mit dem Jahreswechsel hätten sich nicht nur die Ansprechpartner geändert, auch der neue Kindergeldbescheid sei trotz Antrags ausgeblieben: „Ohne den Betrag bleiben Marcus gerade noch 337 Euro“, rechnet der Vater vor.

Bisher war die Familienkasse in Bautzen zuständig. Jetzt sei es eine Zentrale in Magdeburg. Pohlink schüttelt den Kopf. Bürgernähe sehe anders aus. Außerdem müsse das Kindergeld nach Gesetzesänderungen jetzt jährlich neu beantragt werden, inklusive der ärztlichen Atteste. Dabei ändere sich an der Situation des Kindes nichts. Und warum sei Bautzen nicht mehr auf kurzem Weg zuständig? „Das ist doch alles Wahnsinn."

Hirnhautentzündung nach der Geburt

Die Behinderung habe Marcus seit dem Säuglingsalter durch eine Hirnhautentzündung kurz nach der Geburt. Damals sei die Klinik in Räckelwitz wegen der geburtenstarken Jahrgänge zum Überlaufen voll gewesen und kaum Platz in den Zimmern. Der Junge habe sich dort eine Mittelohrentzündung zugezogen, sei aber trotzdem heimgeschickt worden. Daraus habe sich die Hirnhautentzündung mit schwersten Folgen entwickelt.

Das bereite der Familie schon genug Sorgen. Die Bürokratie belastet sie zusätzlich, sagt Karlo Pohlink. Zumal auch Ehefrau Katrin, Marcus' Mutter, mit ihrer Nierenerkrankung schwerbehindert sei und dreimal pro Woche zur Dialyse fahren muss.

Sächsische.de ging dem Fall nach und fragte sich vom Sächsischen Sozialministerium über die Familienkasse in Bautzen bis zur Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit in Chemnitz durch.

Sonderfälle und verschärfter Datenschutz

Sprecher Frank Vollgold erklärt, die Familienkasse habe in Sachsen lokale Standorte in Chemnitz, Leipzig, Plauen, Riesa und eben auch in Bautzen. Dort würden tatsächlich alle Fragen in der Regel bearbeitet.

Es gebe aber auch Sonderfälle. Wo ein besonderes Augenmaß nötig sei. Es gehe um Menschen, die eines besonderen Schutzes bedürften. Datenschutz spiele eine Rolle. Es sei notwendig, „die Einsicht in die elektronischen Akten auf ein unbedingt notwendiges Mindestmaß zu beschränken“.

Solche Fälle – wie eben auch der Kamenzer - sollen zugleich schnell und verlässlich bearbeitet werden, erklärt Frank Vollgold. Deshalb seien spezielle Bearbeitungsteams mit geschulten Fachleuten für das gesamte Bundesgebiet gebildet worden und der „Zentrale Kindergeldservice (ZKGS)“ in Magdeburg.

Zentrale Familienkasse noch im Aufbau

Da sich dieser Service im Aufbauprozess befinde, sei es in den letzten Wochen zu organisatorischen Veränderungen gekommen“, so Vollgold. Leider nicht ganz reibungslos, bemerkt die Kamenzer Familie. Außerdem bedeute es, dass Bautzen keinen Zugang mehr zu ihren Daten habe, kritisieren die Betroffenen. Das sei doch keine Bürgernähe. Die Behörde teile diese Einschätzung nicht. Die Mitarbeiter in Magdeburg seien telefonisch erreichbar und würden auch individuell beraten, bei entsprechender Terminvereinbarung.

Für Karlo Pohlink bleibt es trotzdem unverständlich, warum das besser sein soll, als lokale Ansprechpartner zu haben. Immerhin kündigt der Sprecher an, dass das System zukünftig vereinfacht werden soll. Dann sollen die Mitarbeiter - zum Beispiel in Bautzen - Bürger unterstützen und bei Fragen den Kontakt zu den Fachleuten in Magdeburg telefonisch herstellen. Und die stünden eben deutlich besser im Stoff.

Behörde hat sich inzwischen gemeldet

Am jährlichen Neuantrag fürs Kindergeld wird sich aber kaum etwas ändern. Die Behinderung müsse in Abständen überprüft werden, so Vollgold. Es sei regelmäßig abzuklären, ob der Betroffene in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten oder eben nicht. Im Kamenzer Fall wahrscheinlich eher nicht, aber es gebe auch andere Konstellationen. Den Jahresrhythmus habe der Gesetzgeber so festgelegt - ohne Ausnahmen.

Karlo Pohlink bleibt bei seiner Kritik. Bei Änderungen in der Lebenssituation des Sohnes sei er sowieso verpflichtet, das zu melden. Inzwischen sei immerhin der positive Kindergeldbescheid gekommen, berichtet er. Und der Kindergeld-Service in Magdeburg habe sich – wohl aufgrund der SZ-Nachfragen – auch inzwischen persönlich bei ihm gemeldet.

Nun müsse er sich aber im Grunde schon wieder über den nächsten Antrag Gedanken machen und alles beginne von vorn, dann hoffentlich reibungslos.