Wie Sachsen in den Flutgebieten helfen

Khaled kennt Krisen. Zerstörte Häuser, tote Kinder, Angst vor der Zukunft. Khaled kennt das aus Syrien. In Deutschland ist es für ihn neu. „Die Situation ist eine richtige Katastrophe“, sagt der Zittauer. „Häuser, Blumen, Straßen sind kaputt. Manche haben immer noch Angst, dass das Wasser wiederkommt.“ Khaled ist für das Rote Kreuz im Ahrtal. Vor knapp zwei Wochen hat eine Flutwelle weite Teile der Urlaubsregion in Rheinland-Pfalz zerstört. 132 Tote wurden geborgen, nur ein Teil konnte bisher identifiziert werden. 149 Menschen galten zuletzt als vermisst.

Den Überlebenden helfen Abertausende aus den Trümmern, viele davon aus Sachsen. Eine Hundertschaft der Polizei, mehrere Polizeihunde und einen Hubschrauber hat Sachsen entsendet, nach Angaben des sächsischen Innenministeriums außerdem 403 Kräfte aus Feuerwehr, Rettung und Katastrophenschutz. Während nachts am Himmel der Vollmond hängt, leuchten die Straßen am Boden blau, weil Laster des Technischen Hilfswerks (THW) pausenlos arbeiten. „Helfer-Shuttle“ steht auf Pfeilen neben der Straße. Busse rollen zu den Treffpunkten und gabeln private Helfer auf, die aus ganz Deutschland, Belgien, den Niederlanden gekommen sind.
Staub bedeckt Städte und Dörfer
Khaled und seine drei Kolleginnen der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) vom Roten Kreuz in Zittau sind seit drei Tagen da. Sie hören zu, erklären, vermitteln. Vor allem in einer der wenigen Kitas, die noch intakt sind. Sie spielen mit den Kindern, lesen Geschichten vor, erklären Eltern und Erzieherinnen, dass Angstattacken und Schlaflosigkeit normale Reaktionen sind. Am wichtigsten für Kinder sei jetzt: „Zeigen, ich als Erwachsener bin da, um dich zu beschützen“, sagt die Teamleiterin.

Khaled hat sich um zwei syrische Familien gekümmert, in deren Häuser die Flut gedrungen ist. Eine kommt wie er aus Homs. „Sie haben sich sehr gefreut, dass ich dieselbe Muttersprache hatte. Wir haben alles erklärt. Andere Helfer geben Trinken und Essen, wir kümmern uns darum, dass die Familien weitermachen. Was mit der Wohnung ist, der Auto-Versicherung. Die Familie hat gesagt: Danke Deutschland.“ Khaled kam vor sechs Jahren her, seit fünf arbeitet er im Ehrenamt beim Roten Kreuz. „Bundeswehr, Polizei und Einsatzkräfte helfen hier zusammen den Leuten“, sagt er. In Syrien ist das anders.
Fast alles in der Flutregion ist braun. Schlamm hat sich in Keller und Kofferräume gegraben, Staub bedeckt Städte und Dörfer. „Meine Kinder leben jetzt in einem Niemandsland“, sagt eine Mutter mit Blick auf den Staub. „Selbst wenn die Schule meiner 16-Jährigen bis zum Abi wieder existiert: Es gibt keinen Begegnungsort, kein Schwimmbad, keine Turnhalle.“
"Manche sind völlig Banane"
Vor zwei Wochen lag der Schlamm noch auf dem Grund der Ahr. Dann zog die Flut ihn aus dem Flussbett, riss Tierkadaver, Chemikalien, Kläranlagenteile mit. Ganze Dörfer wurden abgehängt, Brücken abgerissen. In manchen Orten hat die Bundeswehr Ersatzbrücken gebaut, in anderen hat sie mit blauen Klebestreifen „Taxi“ auf einen Fuchs geschrieben. Die Ahr fliegt zu beiden Seiten in die Luft, wenn der Schwimmpanzer von Ufer zu Ufer rauscht, um Leute zu befördern. Der Rest der Brücke liegt als massiver Steinklotz daneben.
Kontaminierter Staub hängt wie eine Glocke über dem Tal. Wer hilft, trägt oft selbst eine braune Schicht auf Hosen, Händen und Stiefeln. Wer wie die meisten Rotkreuzler weiße Pullover trägt, zieht manchmal Wut auf sich. „Einige wurden deswegen angepöbelt“, sagt Vivien aus Hainichen in Mittelsachsen, deren Trupp täglich Hunderte Portionen Essen kocht. „In der Feldküche solltest du nicht mit Schlamm beschmutzt rumrennen.“ Einzelne THW-Helfer sollen mit Glas beworfen worden sein.

Zu Wut und Argwohn sollen auch Querdenker und Rechtsextremisten beigetragen haben, sie inszenierten sich online als die besseren Retter, streuten Falschmeldungen. „Am zweiten Tag ist hier jemand rumgerannt und hat geschrien, dass es eine zweite Flutwelle gibt. Da ist Panik ausgebrochen“, sagt Vivien. Viele Leute seien ohnehin verunsichert. „Die sind in einer Notsituation, wissen nicht wohin. Manche stehen einfach am Straßenrand und starren ins Leere, sind völlig Banane. Ganz viele sind nicht mal versichert.“ Trotz der Not seien die allermeisten freundlich und dankbar. „Danke an alle Helfer“, steht in vielen Restaurants oder Häusern auf Schildern im Fenster.
Ein Festival - mit zerfetzten Häusern
Geröllhaufen mit Resten einstiger Leben säumen die Straßen. Früher die Haushalte von Menschen, heute ein einheitlicher brauner Brei mit Sprenkeln. Ein Schlachtfeld ohne Gewinner. Während des zweiten Wochenendes nach der Flut kommt die Angst vor weiterem Wasser hinzu. Wettervorhersagen kündigen neue Unwetter an. „Keine Zivilfahrzeuge mehr in die Stadt“, warnt die Polizei. Stau verstopft die Straßen. Eine grauhaarige Dame wackelt zu einer Essensausgabe des Roten Kreuzes. Käse, Wurst, Brot, Nudelsalat und Süßigkeiten stapeln sich auf Tellern. „Heute soll es wieder regnen“, sagt sie. „Kann ich da ruhig schlafen? Ich schaue wohl eher vom Balkon.“

Ein Unimog mit Dresdner Nummernschild hält neben einer Brücke in Schuld, deren Geländer wellenförmig auf dem Boden liegt. Die Sonne scheint. „Sieht unspektakulär aus, aber es könnte hier wieder schnell gehen“, sagt ein Rotkreuzler. Der Boden ist noch mit Wasser gesättigt, nimmt keins mehr auf. Ein Berg von prall gefüllten Sandsäcken stapelt sich an einer Straßenecke.
Männer in Bundeswehruniform und Helferinnen in Zivil haben sie gefüllt. Im Notfall sollen die Säcke das Wasser durch zwei hoffnungslose Ruinen in die Ahr ableiten. Ohne die zerfetzten Häuser im Fluss könnte die Szenerie an Festivalstimmung erinnern. Helferinnen und Helfer trinken Eistee und Bier aus Dosen, Schlammflecken ziehen sich über ihre Shirts, aus einem Verstärker dröhnen die Böhsen Onkelz.
Der "Sheriff" behält den Überblick
Direkt nach der Flut gab es kein Gerüst. Kai Kranich, eigentlich Sprecher des Roten Kreuzes in Sachsen, kam am Montag danach in Rheinland-Pfalz an. Am Anfang habe man sich in einer „Akutphase“ befunden, das Rote Kreuz aus Sachsen sendete 1.000 Betten und Decken, dann eine mobile Arztpraxis. Helfer haben Leute aus der Flut gerettet, teilweise seilten sie sich von Hubschraubern ab. „Jetzt brauchen wir eine gewisse Regelstruktur. Vielleicht werden wir das hier ein halbes Jahr lang machen.“
Unzähligen Haushalten fehlen Strom und sauberes Wasser. Die Flut hat ein ganzes System zerstört. Straßen und Schienen, Kanalrohre, Klärwerke und Strommasten. Kliniken und Praxen mussten schließen oder wurden weggerissen. Der „Dorfplatz“ in Ahrweiler-Bad Neuenahr ist ein Sammelbecken für Mangelware. Zwischen einem Brunnen und einem Steinhaus mit seinen spitzen Türmen beginnt das Gewimmel aus Helferinnen und Betroffenen.

Qualm bahnt sich den Weg vorbei an Pavillons gen Himmel, eine Menschenschlange steht für Würstchen und Folienkartoffeln an. Taschenlampen, Konserven und Babynahrung sammeln sich neben einer Burg aus Wasserflaschen. „Hier nehmen wir fast alles an, nur keine Kleidung“, sagt eine Helferin. Manch gut Gemeintes schade eher, stehe im Weg. „Wer herkommt, braucht kein schönes T-Shirt, das hier eh verstaubt, sondern Schubkarren, Gummistiefel, Abzieher, Desinfektionsmittel.“
Zu viele Leitungspositionen fernab des Brennpunkts bringen in Notsituationen wenig. Auf dem Dorfplatz behält ein „Sheriff“ den Überblick. Wenn der Generator leerläuft, das Wasser aufgebraucht ist, weiß er Bescheid. Strom, sauberes Wasser und mobile Sanitäter hat das Rote Kreuz breitflächig verteilt.
Am „Dorfplatz“ steht eine mobile Arztpraxis, die vorher als Impfbus durch Bannewitz und Leipzig gerollt ist. Es gibt zwei Behandlungszimmer, Teeküche, Rezeption. „Hab mir das Schienbein aufgeschlagen, wo kann ich hin?“, fragt ein Mann den „Sheriff“. Der deutet auf den Praxis-Wagen. „Gibt auch Tetanus-Impfungen.“ Die sind gerade besonders wichtig.

„Wir haben ganz viele fies infizierte Wunden von Leuten, die helfen“, sagt eine Arzthelferin. Wegen der Hitze arbeiten sie in kurzen Hosen, verletzten sich an spitzen Gegenständen, giftiger Schlamm läuft in die Wunden. Hätte man ihr vor zwei Wochen von der Flut erzählt, sagt die Arzthelferin, „hätte ich gesagt: Du hast ja ein Ei am Wandern. Dann kam die Welle innerhalb von fünf Minuten.“ Manche aus der evakuierten Klinik sprechen von einer „Nahtoderfahrung“.
"Hätte nie gedacht, dass ihr rüberkommt und uns helft"
Ein Arzt, der in der Klinik als Herzspezialist gearbeitet hat, versorgt jetzt Wunden und impft. Er war in der Klinik, als Strom und Wasser schon nicht mehr funktionierten. „Das Schwierige war die extrem eingeschränkte Kommunikation. Ich habe mich nur um sechs Patienten gekümmert, aber habe vier Stunden gebraucht, um die geordnet aus dem Krankenhaus zu entlassen.“
Ahrweiler-Bad Neuenahr ist der bekannteste Ort der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz. Viele Medien und Helfer konzentrieren sich darauf. In der Fläche, den vielen weiteren Orten der Region, gab es teils ähnlich schlimme Zerstörungen – und immer den schier unglaublichen Kontrast zwischen Elend und Idylle. Kurvige Straßen, die durch grüne Auen und prächtigen Villen führen. Dann wieder Leichensuchtrupps auf verschlammten Straßen, die Gärten passieren, in denen senkrecht Autos stecken. Laster, die Krater umrunden, weil ganze Asphaltschollen herausgebrochen sind. Ein Angehöriger einer Hilfsorganisation sagt, man versuche schon, professionelle Distanz zu wahren; aber manchmal, da müsse man einfach weinen.
„Durch Kreuzberg hätten wir mit einer Walze fahren können, die Bilder haben das Vorstellungsvermögen überfordert“, sagt ein Feuerwehrmann aus Leipzig. Sven Hofmann, Einsatzleiter der Freiwilligen Feuerwehr aus Grimma, sagt im Rückblick, dass ihm der Ort Rech in Erinnerung bleibe. „Wir haben Postkarten gefunden, die gezeigt haben, wie der Ort mal ausgesehen hat. Was davon übrig ist, war erschreckend.“
Auch das Bild von einer Mutter sei ihm im Kopf geblieben. „Sie stand mit ihren Kindern am Ufer und hat geweint. Uns ist es eiskalt den Rücken runtergelaufen.“ Viel Dankbarkeit sei seiner Truppe begegnet. Sie haben Keller ausgepumpt, Schlamm abgetragen. „Ein Mann kam auf mich zu und hat gesagt: Ich muss jetzt mit zwei Vorurteilen aufräumen. Einmal gegen die Feuerwehr. Einmal gegen die Ossis. Der hat gesagt: Das hätte ich nie gedacht, dass ihr extra rüberkommt und uns helft.“
Seelsorger sind dringend notwendig
Auch in Ahrbrück hat der Strom eine Brücke mit sich gerissen, in Schuld oder Kreuzberg den halben Ort.
Zeugen haben einen Campingwagen beobachtet, aus dem Schreie gedrungen sind. Er zerschellte an einer Brücke. Taucher haben nach der Katastrophe Wasserleichen aus Campern gezogen. „Ich bin sicher, die Region ist auf Jahre traumatisiert“, sagt ein Ahrweiler, dessen Haus verschont geblieben ist. „Die Leute sind anders, gucken durch einen durch.“ Seine Schwester hat ihr kastanienbraunes Klinkerhaus erst verlassen, als die Feuerwehr ihr keine Wahl mehr ließ. Sie wird nie mehr dort wohnen. Aber sie lebt. Anders könnte es einem Hermes-Boten ergangen sein, der kurz vor ihrer Flucht noch ein Paket gebracht hat. „Flussabwärts hat man einen Hermes-Wagen gefunden. Wahrscheinlich ist der Mann in den Tod gefahren“, sagt der Ahrweiler.
Eine Familie, die ihr Haus erst nicht verlassen wollte, soll mit Taschenlampen und Bettlaken vom Dach gewunken haben. Dann stürzte Zeugenaussagen zufolge ein Baum auf sie.

Vor manchen Häusern flackern Kerzen, liegen Grabkränze. „Wir in Deutschland kennen das gar nicht“, sagt der Ahrweiler. „Normalerweise sieht man abends im Fernsehen Fassbomben in Syrien, denkt sich ‚schlimm‘ und geht ins Bett.“
Notfallversorger kümmern sich um Menschen, die jetzt solche Schicksale verkraften müssen. Zwei Helfer erzählen von den Leuten, in deren Garten eine Kinderleiche angespült worden ist. Von welchen, die zusehen mussten, wie ein Mann sich inmitten der Flut vier Stunden lang an einen Baum krallte, um dann doch die Kraft zu verlieren. Mit Angehörigen von Toten hatte das Team aus Zittau bei diesem Einsatz nicht zu tun. Geschult und erfahren sind sie aber. „Viele haben jetzt nicht mal den Rückzugsort, wo sie für sich trauern können“, sagt Teamleiterin Sabine Ridder. Das auszuhalten, sei die Aufgabe von Notfallversorgern. „Abends fällt man ins Bett. Wir sind froh, dass wir uns duschen und waschen können, funktionierende Toiletten haben.“
"Wir sehen, dass wir gebraucht werden"
Viele Helfer sind in Turnhallen untergebracht. Auf Feldbetten oder Sportmatten, unter Seilen und Basketballkörben. „Hätten wir vor zwei Jahren auf den Knopf gedrückt, wären mehr Leute als Plätze in Fahrzeugen da gewesen“, sagt Ralf Fillies vom Roten Kreuz in Döbeln, der auch 2013 bei der Flut in Sachsen geholfen hat. „Jetzt hatten wir Mühe, die Wagen zu füllen.“

Durch Corona sind die regelmäßigen Treffen ausgefallen, viele hörten auf. Mehr als die Hälfte der Truppe vor Ort hat jetzt aber verlängert. „Weil wir sehen, dass es gebraucht wird“, sagt Fillies’ Tochter Vivien. Manche fürchten Ärger mit dem Arbeitgeber. Dabei erhält der das Geld für den Dienstausfall zurück. „Eigentlich hat man auch noch eine Familie, ich habe mit meiner kleinen Tochter in der Zeit einmal Videotelefonie gemacht“, sagt einer der Rotkreuzler. „Ich fehle zu Hause. Aber statt auf dem Sofa zu sitzen, helfe ich lieber.“
Das Team aus Zittau reist drei Tage nach Ankunft wieder ab. Usus bei ihrer Aufgabe, damit die emotionale Belastung nicht zu hoch ist. „Das System funktioniert. Wir haben Einsatzkräfte abgelöst, jetzt lösen uns die nächsten ab“, sagt Teamleiterin Ridder. In Erinnerung bleiben werde ihr der Kontrast aus Zerstörung und der Kraft der Leute. „Negativ bleibt mir in Erinnerung, wie einige die Situation ausnutzen, Unruhe stiften, Leute verunsichern.“
Der syrischen Familie hat sie gezeigt, welchen Quellen sie vertrauen können. „Die Situation ist schlimm, aber damit kann man umgehen. Die Menschen, die das dann ausnutzen, machen mich schon sehr nachdenklich.“ Und da sei noch was: „Das hier könnte genauso in Sachsen passieren. Die Leute müssen sich das bewusst machen“, sagt Ridder. Dann steigen sie und ihr Team in den Wagen und fahren nach Zittau. Unter einem diesigen Himmel, aus dem es manchmal regnet. Das befürchtete Unwetter ist in Rheinland-Pfalz und Sachsen ausgeblieben. Zumindest für den Moment.