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Kommen Sie etwa aus dem Westen?!

Laut einer SZ-Umfrage spielt es für jeden vierten Sachsen immer noch eine Rolle, woher sein Gegenüber stammt. Warum ist das so? Sozialforscher geben Antworten.

Von Nancy Riegel
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Warum unterscheiden 25 Prozent der Sachsen bei ihrem Gegenüber noch zwischen Ossi und Wessi? Das habe vor allem mit negativen Erfahren zu tun, sagen Soziologen.
Warum unterscheiden 25 Prozent der Sachsen bei ihrem Gegenüber noch zwischen Ossi und Wessi? Das habe vor allem mit negativen Erfahren zu tun, sagen Soziologen. © Pixabay/klimkin

Lebenswege prägen. Klischees auch. Doch obwohl die Vorstellungen vom typischen „Wessi“ und vom typischen „Ossi“ in vielen Köpfen immer noch sehr lebendig sind: 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es auch für die meisten Sachsen kaum noch relevant, ob ihr Gegenüber aus Ost- oder Westdeutschland kommt. Das hat eine Online-Umfrage des Meinungsforschungsunternehmen Civey im Auftrag von SZ und Sächsische.de ergeben.

Knapp 69 Prozent der Sachsen gaben an, die Herkunft ihres Gegenübers spiele für sie kaum oder gar keine Rolle. Nur knapp jeder Vierte findet es wichtig, ob der Gesprächspartner im Westen oder im Osten geboren wurde. Von den befragten Westdeutschen sagte nur jeder Siebte, die Herkunft sei für ihn relevant. Für die Umfrage wurden 5.044 Antworten von Menschen aus ganz Deutschland ausgewertet, darunter rund 300 aus Sachsen.

© Civey

Warum ist der Wert in den alten Bundesländern niedriger? Der Soziologe Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz glaubt: „Viele Westdeutsche haben bis heute kaum Kontakt zu Ostdeutschen. Die Frage der Herkunft des Gegenübers stellt sich für sie deshalb gar nicht.“ 

Und warum unterscheiden dann 25 Prozent der Sachsen noch zwischen Ossi und Wessi? „Das hat oftmals mit vereinzelten, negativen Erfahrungen im Umgang mit Westdeutschen zu tun“, vermutet Kollmorgen. Ist die unfreundliche Vorgesetzte eine Frau mit bayrischem Dialekt oder der genervte Sachbearbeiter hörbar ein Schwabe, bringt man schnell schlechte Eigenschaften mit Westdeutschen im Allgemeinen in Verbindung. 

Menschen, die zwar ursprünglich aus den alten Bundesländern stammen, mit denen man sich aber gut versteht, gruppiere man nicht in die Masse der „überheblichen Wessis“ ein, so der Soziologe.

Die Soziologen Gert Pickel (l.) von der Uni Leipzig und Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz überrascht das Umfrageergebnis nicht. Klischees über Ost und West seien in Familien verankert, sagen sie.
Die Soziologen Gert Pickel (l.) von der Uni Leipzig und Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz überrascht das Umfrageergebnis nicht. Klischees über Ost und West seien in Familien verankert, sagen sie. © Ronald Bonß/Thomas Kretschel

„Da zeigt sich auch das Problem der Fragestellung: Wer ist Ossi, wer ist Wessi?“ Oftmals mache man das allein am Dialekt des Gegenübers fest, oder aber an der beruflichen Stellung. In seiner aktuellen Forschung zu den Eliten in Deutschland beobachtet Raj Kollmorgen: Männern und Frauen in Chefetagen oder politischen Ämtern schreiben einige Ostdeutsche automatisch eine westdeutsche Herkunft zu. „Das führt dazu, dass mitunter selbst Angela Merkel – eine Frau aus dem Osten, wie hinlänglich bekannt – als westdeutsch wahrgenommen wird.“

Wer bei der Umfrage angegeben hat, die Herkunft des Gegenübers sei relevant, verbindet damit meist negative Klischees. Selbst Menschen, die erst nach der Wende auf die Welt kamen: 15 Prozent der 18- bis 29-Jährigen in Deutschland antworteten bei unserer Umfrage mit „Eher Ja“ und „Ja, auf jeden Fall“. 

© Civey

Gert Pickel, Soziologe an der Universität Leipzig, begründet dieses Ergebnis hauptsächlich mit negativen Wende-Erfahrungen in den Familien. „War mein Onkel nach der Wende arbeitslos, hat er schlecht über die Treuhand gesprochen, kann ich selbst als junger Mensch ein negatives Bild von Westdeutschland haben – ohne diese Erfahrungen selbst gemacht zu haben.“

Pickel vermutet deshalb auch: Die persönliche Unterscheidung in Ossi und Wessi wird nicht so schnell aus den Köpfen der Deutschen verschwinden. Zumal sie aktuell, 30 Jahre nach dem Mauerfall, durch die Presse und durch die Politik wieder angeheizt wird. Etwa von der AfD, die sich als „Vollender der Wende“ präsentierte und dafür die alten Ost-West-Klischees nährt. 

Die Vorbehalte und Vorurteile des geteilten Deutschlands – Jammer-Ossi gegen Besser-Wessi – werden so wieder zurück ins Gedächtnis geholt. 

30 Jahre Wir

Die Serie "30 Jahre Mauerfall - 30 Jahre Wir" von sächsische.de erinnert mit mehr als 100 Porträts, Essays, Reportagen und Videos an die Friedliche Revolution 1989. Alle Beiträge finden Sie hier in der Themenwelt auf sächsische.de.