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Kretzsches späte Liebeserklärung an seine verstorbenen Eltern

Hölleluja heißt Stefan Kretzschmars zweites Buch. Es sei eine Ode an den geilsten Sport der Welt. Noch spannender sind aber die tiefen Einblicke ins Private.

Von Tino Meyer
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Magdeburg im Juli 2007: Stefan Kretzschmar beendet mit einem Abschiedsspiel seine Karriere – als bester Linksaußen der Welt und als Der-Sohn-von. Denn seine Eltern Peter und Waltraud Kretzschmar sind mindestens genauso gut gewesen wie er. Sie war zweimal
Magdeburg im Juli 2007: Stefan Kretzschmar beendet mit einem Abschiedsspiel seine Karriere – als bester Linksaußen der Welt und als Der-Sohn-von. Denn seine Eltern Peter und Waltraud Kretzschmar sind mindestens genauso gut gewesen wie er. Sie war zweimal © dpa/Jan Woitas (Archiv)

Mann oder Maus? Das ist die alles entscheidende Frage im ersten Kapitel des neuen Buches von Stefan Kretzschmar. Gestellt hat sie ihm im Dezember 2001 sein Trainer Alfred Gislason beim Handballverein SC Magdeburg. Dass Kretzsche, damals wie heute der bekannteste Vertreter seiner Sportart, an einem Bandscheibenvorfall laborierte, interessierte den knorrig-liebenswerten Isländer nicht wirklich. Schließlich galt es ein Champions-League-Spiel in Mazedonien zu bestreiten.

„Du sollst nur mitreisen, damit die denken, du spielst“, sagte Gislason zunächst also noch zu Kretzschmar, dem besten Linksaußen der Welt. Doch dabei blieb es nicht. Magdeburg lag kurz vor Schluss mit zwei Toren in Rückstand, als ihn der Trainer inmitten des Lärms von ein paar Tausend euphorischen mazedonischen Fans die Frage entgegenschrie: „Mann oder Maus?“

Sekunden später stand Kretzschmar auf dem Spielfeld. „Ich funktionierte. Automatismen griffen, Abläufe wurden abgespult, Spielzüge durchgezogen“, schreibt der bald 46-Jährige. Er holte einen Siebenmeter heraus, erzielte einen Treffer selbst. Am Ende erreichte Magdeburg ein nicht mehr für möglich gehaltenes Unentschieden. Dafür schlug Kretzschmars Bandscheibe endgültig Alarm – und Trainer Gislason mit den Händen auf die Schultern des Patienten und sagte lächelnd: „Geht doch.“

Hölleluja! Der Titel von Kretzschmars zweitem autobiografischen Buch bringt es ganz gut auf den Punkt. Handball ist offenbar tatsächlich der absolute Wahnsinn, so wie vom Autor behauptet. Wie sein Erstlingswerk „Anders als erwartet“ vor gut zehn Jahren liefert der gebürtige Leipziger einmal mehr erstaunliche Einblicke in die Sportart und das Private. Dem „Einwerfen“ samt der Mann-oder-Maus-Frage folgt mit „Hymne“ eine Ode an den Handball. „Erste Halbzeit“, „Time-Out“, „Pause“ und „zweite Halbzeit“ – jedes Kapitel für sich ist informativ-unterhaltsam, pointiert, mitunter provokant. Eben wie Kretzschmar selbst.

Wer den Typ mag, muss dieses Buch lesen. Wer ihn nicht leiden kann, sich aber für den Sport und sein Innenleben interessiert, sollte es ebenfalls tun. Und alle anderen? Dürfen gleich Seite 291 aufschlagen und mit der „Verlängerung“ beginnen. Untertitel: Handball im Blut, Zusammenhalt und Abschied. Dieses Kapitel geht ans Herz und rührt zu Tränen.

Er ist Kretzschmars Offenbarung seines Seelenlebens, seiner Gefühle und Empfindungen, eine zutiefst persönliche Schilderung aus dem Innersten der Familie. Wer das als Seelen-Striptease bezeichnet, liegt auch nicht daneben.

„Meine Rolle in der Handballfamilie Kretzschmar hat sich innerhalb weniger Monate auf dramatische Weise verändert“, setzt Kretzschmar an und schreibt, wie er immer öfter auf dem Holzsteg des kleinen Sees im Umland von Berlin sitzt. Ganz vorne, „wo die Planken enden, die Weite beginnt und ich nicht nur die Beine baumeln lassen kann, sondern auch meine Seele“.

Kretzschmar erzählt von seinen Kindern, die ebenfalls Handball spielen – Lucie Marie für den Drittligisten HC Leipzig, Elvis Ernesto in Magdeburg und beide mit einer Bürde. „So sehr es mich freut, dass Lucie und Elvis den Namen Kretzschmar in die dritte Handball-Generation tragen, so schwierig ist es für sie, unbeschwert aufzuspielen. Sie werden immer unter besonderer Beobachtung stehen, mit speziellen Maßstäben gemessen und mit Vergleichen konfrontiert werden. Wer wüsste das besser als ich“, fragt Kretzschmar, der selbst als der Sohn-von aufgewachsen ist – als Sohn von Waltraud und Peter Kretzschmar, die Mutter die beste Handballerin der Welt in den 1970er-Jahren, der Vater ihr Trainer, und Weltmeistermacher. Zudem gewannen die Kretzschmars in ihrer Spielerin-Trainer-Beziehung einmal Olympia-Silber- und einmal -Bronze.

Für Kretzschmar junior hatte das weitreichende Folgen, nicht nur sportlich. Dass er den Platz in der Sportschule allein auf Drängen seines Vaters erhielt, ließen ihn Mitschüler, Trainer und Gegenspieler lange spüren. Noch länger aber litt er unter dem kühlen Verhältnis zu seiner Mutter. Loben oder Lieben, sei es mit Worten, Gesten oder Berührungen – im Hause Kretzschmar hat es das nicht gegeben.

Mutters Depressionen und die Folge

„Als meine Mutter das erste Mal zu mir sagte, dass sie stolz auf mich sei, war ich 34 und hatte gerade meine Karriere beendet“, erzählt die meist cool und unnahbar wirkende Ikone einer ganzen Sportart. Und weiter: „Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich das Gefühl, ihren hohen Ansprüchen, die sie auch an sich selbst stellte, nicht zu genügen.“

Kretzschmar wiederholt damit, was er in seinem ersten Buch bereits öffentlich gemacht hat. Mit einem Unterschied. „Es ist an der Zeit, einige Dinge geradezurücken, und es ist mir auch ein Bedürfnis, denn ich bin mit meiner Mutter hart ins Gericht gegangen, öffentlich, was ich heute bereue. (...) Ich habe mir damals meinen Kummer von der Seele geschrieben, was mir gutgetan hat, ohne auch nur zu ahnen, wie es um die Seele meiner Mutter bestellt war.“

Waltraut Kretzschmar litt unter einer schweren Depression – was ihr Sohn nicht wusste und auch danach dies nicht als Erklärung für ihr Verhalten akzeptierte. „Wer keine Liebe zeigt, der will sie nicht zeigen. Oder er liebt nicht. Das war meine Sicht auf die Dinge und dabei kam meine Mutter nicht gut weg“, schreibt er.

Für den Wendepunkt sorgt Doreen Ditt-rich, Spitzname Dorle und seit vier Jahren die Frau an Kretzschmars Seite. „Dorle gab mir klipp und klar zu verstehen, dass es eine Versöhnung mit meiner Mutter nur geben könne, wenn ich den ersten Schritt mache“, erklärt Kretzschmar und gesteht, dass es ein harter Kampf gewesen sei, bis er das eingesehen habe – gerade rechtzeitig.

Im Frühjahr 2016 sprechen sich Mutter und Sohn aus. „Ich habe ihr gesagt, dass ich sie lieb habe und sehr stolz auf sie bin und dann habe ich sie in den Arm genommen. Das war eine große Sache, denn einen solchen Moment hatte es zwischen uns zuvor nie gegeben“, schreibt Kretzschmar und berichtet seitdem von einer anderen Herzlichkeit und Nähe – bis zum Tod von Waltraud Kretzschmar. „Es war ein Schock für mich, als meine Mama im Februar 2018 starb, nur sechs Tage nach ihrem 70. Geburtstag, und ich hatte lange damit zu kämpfen“, meint er. Es sei ein Trost, vorher mit ihr Frieden geschlossen zu haben. Sieben Monate nach dem Tod der Mutter stirbt auch sein Vater. „Papa fehlt mir sehr. Er war mir immer mein wichtigster Ratgeber, meine Bezugsperson und der Mensch, der mich am meisten geprägt hat. Er war mein großer Held“, so Kretzschmar junior.

Einen anderen Blick auf das Leben habe er inzwischen gewonnen, auf menschliche Beziehungen, Familie, Freunde. Die Zeiten des, wie er sagt, arroganten, ich-bezogenen Arschlochs seien vorbei. „Ich schätze mich glücklich, dass ich eine harmonische Beziehung zu meinen Kindern habe, was nicht selbstverständlich ist, nachdem ich die von mir gegründete Familie zweimal verlassen habe“, betont er und meint, es scheine, als käme langsam Ordnung in sein Leben – das weiter vom Handball dominiert wird.

Spiele mit der Legenden-Auswahl sind für Kretzschmar immer noch Höhepunkte – und Leiden zugleich. Die Frage „Mann oder Maus?“ ist zwar hinlänglich beantwortet, die Bandscheibe aber vergisst nie.

Stefan Kretzschmar: „Hölleluja! Warum Handball der absolute Wahnsinn ist“ Edel, 320 Seiten, 17,95 Euro.