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Die gewalttätige Angst der Männer: Warum unser Bild von Männlichkeit allen schadet

Der Verdachtsfall Till Lindemann verdeutlicht: Das Gewaltproblem der Gesellschaft verantworten fast ausschließlich Männer. Doch woran liegt das?

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Macht auf ganzer Mann, muss sich aber Frauen zuführen lassen: Rammstein-Sänger Till Lindemann (60).
Macht auf ganzer Mann, muss sich aber Frauen zuführen lassen: Rammstein-Sänger Till Lindemann (60). © dpa/Malte Krudewig

Von Sascha Möckel

Die Band Rammstein und deren Frontmann Till Lindemann prägten einen eigenen und weltweit bekannten Stil: markige, gewaltvolle Texte, martialisches Auftreten, Feuerkaskaden, die Peniskanone, das Spiel mit Tabus.

Die Affäre um den mutmaßlichen Machtmissbrauch Lindemanns und das massenhafte Zuführen von jungen Frauen zu dessen sexueller Verfügung wirft die Frage auf: Warum hat ein derart reicher, einflussreicher und auch weiblicherseits teilweise angebeteter Mann im 60. Lebensjahrzehnt es nötig, auf eine solche Art und Weise mit Frauen in Kontakt zu kommen? Was steckt dahinter?

Eine der vielen Antworten steht jetzt schon fest: Wir haben ein Problem mit Männermacht und Männergewalt.

Brutale "Männlichkeit" kostet jedes Jahr 63 Milliarden Euro

Das fällt immer dann besonders auf, wenn Männer durch Gewalt öffentlich verhaltensauffällig werden. Wenn sie etwa zum Herrentag grölend mit Handwägelchen und viel Alkohol durch die Straßen ziehen, wenn es dabei zu Pöbeleien und Aggressionen kommt und sie massenhaft Polizeieinsätze provozieren. Oder, wenn Männer sich am Rande von Fußballspielen mit Polizei und anderen Fans beschimpfen und bekämpfen. Nicht nur in Dresden sieht man vielerorts machtbewusste und aggressive Sprüche in Schwarzgelb, auf Aufklebern, in Graffiti. Bundesweit ist Dynamo Dresden einerseits für die einzigartige Fankultur bekannt, andererseits aber auch für deren Aggressivität berüchtigt. Fan-Kategorie B+C, eine Gefährdereinteilung der Polizei, ist bei allen Zählungen bei Ausschreitungen ganz vorn dabei.

Das ist natürlich nichts Sachsen-Typisches. Blicken wir über den regionalen Rand hinaus, finden wir unzählige Beispiele für brutale, expansive und an allen Arten von Unterdrückung beteiligte Männer. Ob das Autokraten in Saudi-Arabien sind, Kriegstreiber in Russland, die italienische Mafia oder Narcos in Mexiko, Rockerbanden wie die Hells Angels oder Massenmörder wie Anders Breivik – überwiegend sind dafür Männer verantwortlich. Es gibt dafür scheinbar leider keine Grenzen.

Der Wirtschaftswissenschaftler Boris von Heesen weiß, wie teuer uns diese „Männlichkeit“ zu stehen kommt: 63 Milliarden Euro pro Jahr. Die größten Kosten entstehen durch Substanzmissbrauch, durch Sucht, andere wesentliche Thematiken sind Gewalt, fehlendes Gesundheitsbewusstsein und Risikoverhalten.

Warum führen Männer alle Gewaltstatistiken an und finden sich im Übermaß in allen Randbereichen der Gesellschaft? Ob Obdachlosigkeit, Abhängigkeit, Haftanstalten (94 Prozent darin: Männer), Unfälle, Kriminalität, kriegerische Auseinandersetzungen; es wirkt, als müssten Männer zwanghaft an jeder Untat teilhaben.

Die Erklärung verlangt einen kleinen inhaltlichen Bogen. Frauen haben allein schon durch biologische Umstände einen tieferen Bezug zum Körper, den Rest tut die tradierte gesellschaftliche Rolle dazu: Frauen sollen schön sein, jede Äußerlichkeit und jede Bewegung wird stärker gewertet. Das wirft sie auf ihre Körperlichkeit zurück, ihre Wahrnehmung und Orientierung geht stärker nach innen. Wer das nicht glaubt, muss einfach nur mal vergleichen, wie unterschiedlich die Wahrnehmung ist, und wie es bewertet wird, wenn eine Frau sich breitbeinig in ein Lokal setzt und wenn ein Mann das tut. Wer einmal den Blick dafür entwickelt hat, sieht diese Unterschiede überall. Männer setzen sich in Szene, sind präsent, laut und dominanter als Frauen. Männer, so sagt es der früher auch in Dresden lehrende Männerforscher Lothar Böhnisch, stellen ihre Identität stärker über das Äußerliche dar.

Permanenter Wettkampf um Anerkennung

So einfach, so klar. Aber was bedeutet das? Der Beruf, die Arbeit, gesellschaftlicher Status, Höchstleistungen im sportlichen Bereich, ausgefallene Hobbys, das dicke Auto, das alles ist wichtig für männliche Identifikation. Deswegen geht es bei Männerfreundschaften öfter ums Klettern, um Fußball, die Weltpolitik, um quasi alles – außer um die eigene Körperlichkeit, um Gefühle, um sensible Themen. Der Körper als perfekt trainierte Maschine, die eigenen Gefühle und Verletzlichkeiten als Gesprächs-Tabu, das Autonomiedenken „ich schaff das alleine“, so Lothar Böhnisch weiter, sind bei Männern der Standard.

Das ermöglicht ihnen, beeindruckende Leistungen zu erzielen und ihren Plan zu verwirklichen, ohne dabei nach links oder rechts zu blicken. Unter anderem das bringt Männer in gesellschaftliche Machtpositionen, macht sie zu Chefs, katapultiert sie in die Pole Position.

Genau diese Konkurrenzorientierung wird in Jungen- und Männergruppen, Sportvereinen und Männerbünden schon früh und permanent eingeübt. Als wichtig gilt, wer der Erste und Beste ist und die meisten Frauen „hat“, auf den höchsten Berg geklettert ist oder das meiste Wissen in einem bestimmten Bereich besitzt.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Computernerds, Briefmarken- oder Autosammler überwiegend Männer sind? Auch das sind Möglichkeiten, sich in einem bestimmten Bereich eine herausgehobene Position zu verschaffen. Das Leben vieler Männer ist ein permanenter Wettkampf um Anerkennung.

Männer lechzen nach Anerkennung

Warum aber ist diese Anerkennung und Selbstpräsentation so wichtig? Hier schließt sich der Kreis: Da die wenigsten Männer ihre Kraft aus sich selbst schöpfen können, weil der Bezug zum eigenen Innenleben fehlt, sind sie auf diese Anerkennung im Außen angewiesen. Worin sich zeigt, dass das sogenannte starke Geschlecht in Wahrheit gar nicht so stark ist. Es verlangt, es lechzt geradezu nach permanenter Bestätigung durch andere, in der Außenwelt, nach Geld und Macht, sportlichen Erfolgen oder Spezialwissen. Das ermöglicht ihnen, in einem beschränkten Bereich Kontrolle auszuüben und somit (Selbst-) Sicherheit herzustellen.

Viele Männer zerbrechen auf Dauer daran, weil sie den permanenten Druck nicht aushalten. Doch ein Burnout, also ein chronischer Erschöpfungszustand durch Belastungen im Außen, wird bei Männern immer noch sehr selten diagnostiziert, weil sich hartnäckig das Vorurteil hält, dass ein Mann viel aushalten können muss. Nicht nur das macht Angst, auch die hohen Rollenerwartungen nicht erfüllen zu können und letztlich kein richtiger Mann zu sein.

So erklärt sich auch Homophobie, die Schwulenfeindlichkeit, die auch in unserer Region stark verbreitet ist. Homosexuelle werden als weich oder schwach wahrgenommen und natürlich in einer Gesellschaft angeblicher „ganzer Kerle“ abgewertet. Auf manchen Schulhöfen ist das Schimpfwort „schwul“ immer noch zu hören, was meint: Du bist weich, du bist unmännlich – und ich beweise den anderen, indem ich dich ablehne, dass ich im Gegensatz zu dir ein „richtiger“ Mann bin.

Alles, nur nicht weich

Männer haben viele Bewältigungsstrategien entwickelt, um bloß nicht in die Schublade „weich“ oder „verletzlich“ zu fallen. Sie bauen Muskelberge auf, die sie Gorillas ähneln lassen, und verpassen sich ein Outfit, das das Gewaltvolle unterstreicht – siehe Till Lindemann. Ein Beispiel dafür sind die Shirts der Marke „Yakuza“, was auf Japans Mafia verweist, aber eigentlich eine rechts-offene Marke aus der Lausitz ist. Alles, was Härte suggeriert, wird eingesetzt. Egal, wie schlecht die kernigen Tätowierungen sind und wie absurd überdimensioniert der SUV oder Pickup ist – Hauptsache, ich kann mich damit profilieren und als „hart“ markieren.

Doch je heftiger der Superlativ, desto instabiler das Innere. Wie schwach muss ein Mann sein, damit er ein dickes Auto oder aufgepumpte Körpermaße braucht? Freilich wird diese Art von „Männlichkeit“ auch von Frauen bestätigt, die solche Männer als Partner wählen, deren Schattenseiten akzeptieren, sie damit durchkommen lassen – sogar mit Seitensprüngen. Denn der größte Macker wird nicht als erfolgreich angesehen, wenn er nicht möglichst viele Frauen flachlegt. Auf eben dieser Ebene bewegt sich auch ein Till Lindemann.

Wie aber kann eine Gesellschaft damit umgehen, dass viele Männer derart vermackern, weil sie keinen anderen Weg zur Akzeptanz als Mann kennen und mit ihrer Angst, als „harter Kerl“ zu versagen, nicht umgehen, geschweige denn darüber reden können? Anders gefragt: Wie können wir als Gesellschaft Männer dabei unterstützen, nicht hart und unverwundbar sein zu müssen, sondern auch mal verletzlich sein zu dürfen? Indem wir die Inszenierungen von macht- und gewaltvoller Männlichkeit hinterfragen. Indem wir die Bilder als jene (Selbst-)Täuschungsmanöver verstehen, die sie sind, allerdings ohne die Männer deswegen abzuwerten. Kurz: Indem wir dafür Räume schaffen, auch in der Öffentlichkeit, aber zuallererst im Privaten.

Fragen Sie einen Mann nach seinen Ängsten

Probieren Sie es einfach mal aus: Fragen Sie die Männer in ihrem Umfeld bei passender Gelegenheit nach deren Ängsten. Vielleicht donnert ihnen darauf zunächst ein „Ich hab keine Angst!“ entgegen. Aber das stimmt nicht. Alle Menschen haben Ängste, und wer sie nicht kennt, hat keinen Zugang zu sich selbst. Machen Sie den Anfang und reden Sie zuerst über Ihre Ängste. Denn Männer, mit denen sich ein offenes Gespräch ergibt über Angst vor Verlust, über Existenzprobleme oder Ähnliches, können sich in Gesprächen mit vertrauten Personen meistens sicher fühlen und die Chance nutzen, produktiver damit umzugehen. Und bei diesen Männern können sich auch andere sicherer fühlen, weil sie es nicht nötig haben, den angestauten Druck über Aggressivität oder schwierige Verhaltensweisen auszuleben.

Ob Till Lindemann, Wladimir Putin, ob „Paschas“, Männertags- oder Fan-Randalierer – sie alle haben etwas gemeinsam: Sie leben ein veraltetes Bild von Männlichkeit, das ihnen selbst ebenso schadet wie anderen. Das ist ein schwerwiegendes und folgenreiches Problem, ein Lebensproblem, sogar ein Überlebensproblem.

Lassen Sie uns also alles dafür tun, dass Männer nicht mehr irrglauben, sie müssten andere übertrumpfen, bekämpfen und unterwerfen, um ihre Ängste im Griff zu halten und „ganze Männer“ zu sein. Fangen wir im Kleinen an, sie vom Gegenteil zu überzeugen, bei uns, unseren Familien, unseren Freunden. „Wie gehen wir Männer mit uns um?“, ist eine Gretchenfrage, die im Klartext lautet: Wollen wir im Guten miteinander leben?

Unser Autor

Sascha Möckel
Sascha Möckel © privat

Sascha Möckel wurde 1978 in Schlema geboren. Der Sozialarbeiter ist in der Politischen Bildung tätig als Jugendreferent beim Arbeitersamariterbund ASB Landesverband Sachsen und im Vorstand des Männernetzwerks Dresden. Das MNW betreibt Gleichstellungsarbeit aus Männerperspektive und bietet im Bedarfsfall Beratung und Hilfe. web www.mnw-dd.de