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Die Erfolgsgeschichte eines DDR-Schaukelwagens

Deutsches Design 1949 - 1989: Der Schaukelwagen von Hans Brockhage und Erwin Andrä rollte aus der DDR in die Kindergärten vieler Länder.

Von Birgit Grimm
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Rollt wie ein Auto, und wenn man das Gerät umdreht, schaukelt es. Entwickelt 1950 von zwei jungen Kunststudenten in Dresden, wird der Schaukelwagen heute wieder gebaut.
Rollt wie ein Auto, und wenn man das Gerät umdreht, schaukelt es. Entwickelt 1950 von zwei jungen Kunststudenten in Dresden, wird der Schaukelwagen heute wieder gebaut. © © Vitra Design Museum, Foto: An

Er hatte als Kind schon ein Auto. Und was für eins: „Das war wie ein Käfer. Wenn es umfiel, konnte man schaukeln“. Und er konnte sich gegen die Erwachsenen wehren: Wenn Papa nicht so wollte wie er, fuhr er ihm gegen das Schienbein. Solche Geschichten findet man im Internet, wenn man den Begriff „Schaukelwagen“ eingibt.

Mädchen waren damals natürlich sehr viel braver, aber Auto fuhren sie auch: „Ich bin 1955 in Görlitz geboren und diese Autoschaukel war für mich und meine kleine Schwester das Lieblingsspielzeug sowohl im Kinderzimmer als auch im Garten!“ Das schrieb eine Dame im Dresdner Lipsiusbau an die Pinwand der Ausstellung „Deutsches Design 1949 – 1989. Zwei Länder, eine Geschichte“. Die Schau, die ost- und westdeutsche Designentwicklung zeigt, ist nun leider pandemiebedingt geschlossen. Aber da viele der ausgestellten Exponate in deutschen Haushalten Jahrzehnte überdauerten, manche gehegt und gepflegt werden, erinnern sich viele Menschen gern daran.

Das Fahrzeug, von dem hier geschwärmt wird, ist der Schaukelwagen, den Hans Brockhage und Erwin Andrä 1950 entwarfen, ein Spielgerät aus Holz mit Rädern, auf dem man umgedreht dank zweier gebogener Schienen auch schaukeln kann. Brockhage und Andrä waren damals Studenten an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste und bekamen die Aufgabe, ein sicheres Schaukelpferd zu entwerfen. Oder, wie es ihr Lehrer, der niederländische Bauhauskünstler Mart Stam, gesagt haben soll: „Wenn Pferd umfällt, Pferd ist tot. Du musst machen Pferd, das nicht tot ist, wenn fällt um.“

Ein autobiografisches Werk

Stam leitete das Seminar für Spielzeug an der Dresdner Hochschule für Werkkunst, die im Geburtsjahr des Schaukelwagens der Hochschule für Bildende Künste angegliedert wurde. Hans Brockhage, der nach dem Studium freischaffend in Schwarzenberg lebte, mag auch ein Tierfreund gewesen sein. Aber das war freilich nicht der hauptsächliche Antrieb für den Bildhauer. Seine 1949 geborene Tochter, die Künstlerin und Architektin Anna Franziska Schwarzbach, erzählt: „Der Schaukelwagen ist ein zutiefst autobiografisches Werk. 1944 wurde mein Vater im Krieg schwer verwundet. Er verlor ein Bein und fühlte sich wie ein Auto, das nicht mehr fuhr. Eigentlich konnte er auch nur noch am Ort schaukeln“, sagt sie.

Der Schwarzenberger Holzgestalter Professor Hans Brockhage, ein Archivbild aus dem Jahr 2005.
Der Schwarzenberger Holzgestalter Professor Hans Brockhage, ein Archivbild aus dem Jahr 2005. © Lars Rosenkranz

Brockhages Schaukelwagen ging vor siebzig Jahren in die Produktion, wurde ein Spielzeugklassiker in der DDR und Hans Brockhage ein bekannter Bildhauer im Erzgebirge. 1957 erhielt der Schaukelwagen eine Auszeichnung von „spiel gut“ in Ulm. Das klingt nach einer steilen Karriere. Aber so einfach war es nicht: „Am Anfang hieß es, dass diesen Schaukelwagen keiner will. Deshalb wurde er nicht produziert“, erinnert sich Frau Schwarzbach. Hans Brockhage ließ sich nicht beirren, fuhr allein zur Leipziger Messe und kam mit einer langen Bestellliste zurück. „Dann suchte er auf eigene Faust einen Hersteller. Gottfried Lenz hieß er, aber der ging 1957 in den Westen“, erzählt Frau Schwarzbach.

Na klar, die moderne Frau fährt Schaukel oder schaukelt den Wagen. Die Zeitschrift „Frau von heute“ brachte das Spielgerät 1956 auf den Titel. Es kostete damals 41 D-Mark, die Zeitschrift 30 Pfennige.
Na klar, die moderne Frau fährt Schaukel oder schaukelt den Wagen. Die Zeitschrift „Frau von heute“ brachte das Spielgerät 1956 auf den Titel. Es kostete damals 41 D-Mark, die Zeitschrift 30 Pfennige. © Archiv Schwarzbach

In Berggießhübel und in Rosenthal an der tschechischen Grenze wurde der Schaukelwagen in den 1950er-Jahren produziert, Mitte der 60er dann im VEB Holzverarbeitung Ohrdruff. Bis nach Kamtschatka wurde geliefert. 1.500 Stück gingen in die Schweiz. In der DDR wurden vor allem Kindergärten damit bestückt. Aber man konnte den Schaukelwagen auch privat erwerben, zum Beispiel in den 1960er-Jahren im Kunstgewerbegeschäft Schraps in Hohenstein-Ernstthal. Frau Schraps muss eine Institution gewesen sein. Was sie nicht besorgen konnte, das gab es wirklich nicht. Mancher nahm eine weite Reise in Angriff, um bei ihr zu kaufen. Koste es, was es wolle.

1956 kostete der Schaukelwagen 41 DM, also Deutsche Mark der Deutschen Notenbank. So hieß die ostdeutsche Währung, bevor die Aluchips zu Mark der DDR wurden. Wie das Journal „Frau von heute“ in jenem Jahr schrieb, sei der Preis „sicher nicht zu hoch gegriffen. Die Liefermöglichkeiten wären auch zufriedenstellend.“

Aus gedämpftem Buchenholz

Heute findet man im Internet den Schaukelwagen mit Preisen von bis zu 2.000 Euro. Das sind entweder originale Designobjekte aus DDR-Produktion – oder Fantasiepreise von Betrügern. Auch wesentlich billigere Schaukelwagen gibt es. Die sehen ähnlich aus, heißen anders, müssen aber selbst zusammengeschraubt werden, „und fallen bald wieder auseinander“, sagt Andrea Haupt. Gegen billige Kopien geht die Geschäftsführerin der Werkform Spielgeräte und Außenmöblierung GmbH in Brand-Erbisdorf juristisch vor. „Das kann teuer werden“, warnt sie. Ihre Firma hat 2008, im Jahr vor dem Tod Hans Brockhages, die Lizenz erworben. Maximal 50 Schaukelwagen jährlich produzieren die Werkformer in solider Handarbeit aus dem gleichen Material, das einst in der DDR verwendet wurde: Buchenholz aus dem Erzgebirge, gezapfte Verbindung, dampfgeformter Sperrholzsitz, ökologische Lasur auf Wasserbasis. Stolze 420 Euro kostet das Stück, das Generationen überdauert.

„Auch die roten Räder mit der schwarzen Gummibereifung sind heute noch Pflicht, obwohl sie auf Stein- oder Holzböden schwarze Streifen hinterlassen“, ergänzt Anna Franziska Schwarzbach. Ihren Schaukelwagen hält sie in Ehren, obwohl er einen roten Sitz hat. „Den finde ich nicht ganz so schön“, verrät sie.

Sollten Geschwisterkinder sich streiten, weil einer schaukeln und die andere fahren will, können die Eltern ganz einfach schlichten. Sie müssen nur ihre Schienbeine in Sicherheit bringen, wenn sie den Kindern zeigen, dass der Wagen viel besser fährt, wenn einer hinten schiebt, während die Fahrerin kräftig tritt. Rollt der Wagen, kann der Anschieber sich hinten draufstellen und mitfahren.

  • Die Ausstellung „Deutsches Design 1949 – 1989. Zwei Länder, eine Geschichte“ im Dresdner Lipsiusbau, Brühlsche Terrasse, ist pandemiebedingt geschlossen. Der Katalog (Vitra Design Museum, 320 Seiten, 380 Abbildungen) kostet 59,90 Euro.