DDR-Kunst ist kein Label, das man wie TÜV-Plaketten auf Bilderrahmen kleben darf
Interviewprojekt Kunstszene Ost, Teil 16: Thea Herold schrieb ihre ersten Texte über Kunst in Moskau, realisierte eigene Kunstprojekte und ist Expertin für Schlaf.
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Sarah Alberti
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Frau Herold, Sie haben viele Jahre als Kulturjournalistin gearbeitet. Wo ist Ihr erster Text erschienen?
In der Sächsischen Zeitung, Kreisseite Riesa. Da war ich 14 Jahre alt. Die Kreisredaktionen hatten Jugendredaktionen. Wir waren ganz stolz, dass wir da mitschreiben konnten. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Text über den Lehrer einer Musikschule.
Und da haben Sie Feuer gefangen?
Ich wollte immer schon schreiben. Es gab in der DDR nur eine Universität, wo man den Beruf Diplomjournalist erlernen konnte. Die war in Leipzig. Es war ganz klar: Wenn es für mich in dieser Richtung weitergehen soll, muss ich dorthin.
Wie viel Einfluss hat der Staat auf die Studieninhalte genommen?
Zu 50 Prozent war es schon eine Ausbildung, die parteilich gebunden war. Sie sollte ja auf die Arbeit als Parteijournalist vorbereiten. Es gab Fächer wie Gesellschaftsaufbau und Politik im Sozialismus. Nach der Wende haben wir unsere Ausbildungswege mit Kollegen verglichen, die ihre journalistische Ausbildung in den alten Bundesländern durchlaufen hatten. Stilistik, methodische Ausbildung und die Genreausbildung waren sehr ähnlich. Das war auch in der DDR eine gute und sichere Grundlage, mit der man später arbeiten konnte.
Wie ging es nach dem Studium für Sie weiter?
Ich bin erst einmal als Bürokraft bei Intertext untergekommen. Das war die Fremdsprachenagentur der DDR. Ich habe den Job zum Glück nicht lange machen müssen. Denn Ostern 1984 zogen wir nach Moskau um. Mein Mann war dort als Juniorkorrespondent des Neuen Deutschland akkreditiert.
Wie kann ich mir Ihren Alltag in Moskau vorstellen?
Wir waren eine junge Familie, das Kind acht Monate alt, die Mutter 24, der Vater 25. Wir haben erlebt, wie ein Land in Agonie wie erstarrt ist. Und sich dann in jeder Hinsicht umwendet in eine ausgesprochen bewegliche, neu orientierte Zeit. Glasnost und Perestroika waren ja nicht nur Worte. Das hat tatsächlich für ein Umwälzen in der Gesellschaft gesorgt. Mit dieser Erfahrung kamen wir zurück in die DDR, in der wir uns nicht mehr wirklich auskannten. Es kam uns vor, als würde der Mehltau nun hier auf der Gesellschaft liegen. Zugleich gab es viel Interesse an den Erfahrungen, die wir gemacht hatten. Wir waren unterwegs, um in kleinen Gruppen über die Moskauer Zeit zu erzählen. Wie Wanderprediger.
War von Beginn an klar, dass Sie nur für einen bestimmten Zeitraum in Moskau bleiben würden?
Ja. Es gab eine klare Zeitspanne zwischen dem Wechsel der Redakteure, immer für vier bis fünf Jahre. Nach den Jahren in Moskau bin ich mit dem Gefühl heimgekommen, in der Sowjetunion erwachsen geworden zu sein. Aber ganz anders, als ich in Berlin hätte erwachsen werden können. So bin ich dieser Zeit und diesem Land bis heute noch dankbar. Und ich bin unendlich traurig darüber, was dort aktuell passiert.
War nach Ihrer Rückkehr nach Berlin klar, dass Sie wieder an die Feder wollten?
Nun, in der Zwischenzeit habe ich ja nicht wirklich schreiblos gelebt. Ein Korrespondent aus Österreich fragte mich in Moskau, ob ich für seine Redaktion über Kulturthemen schreiben könnte. Das habe ich gerne gemacht. Vor allem über Ausstellungen. Das ist auch gedruckt worden. Wenn auch unter anderem Namen.
Und warum haben Sie vor allem über Ausstellungen geschrieben?
Theaterstücke und Filme musste ich auf Russisch ja so verstehen können, wie sie gesprochen wurden, also meistens sehr schnell. Ein Bild, eine Plastik, eine Installation, die hielt still. Die hielt so lange still, bis ich das Gefühl hatte: So, jetzt haben wir uns verstanden! Einige wenige Texte wurden auch in der DDR im Sonntag gedruckt.
Nach Ihrer Rückkehr waren Sie bis 1989 noch Kulturredakteurin bei der Jungen Welt. Wie frei sind Sie da gewesen?
Es gab eine ganze Reihe von Texten, die nicht erschienen sind und vom damaligen Feuilleton-Chef einfach von der Seite genommen wurden. Meine Hauptarbeit war damals das Organisieren einer Grafikedition. Ich gab ihr den Titel „Beweggründe“. Als die fertig war, im Mai 1989, war das ein sehr umstrittener Titel. Aber ich war bockig, und ich wollte ihn so haben. Er wurde auch so gedruckt. Trotzdem bin ich bald gegangen. Mit dem Schwung aus den „Die-Mauer-ist-gefallen-Monaten“ habe ich mir vom Finanzamt eine eigene Steuernummer geben lassen und war fortan freie Autorin.
Wie war Ihre Gefühlslage im November 1989?
Ungläubig, euphorisch, neugierig. Ich war auch erleichtert, weil ich wusste, dass ich mir ab sofort keine Gedanken mehr darüber machen musste, ob wir ausreisen.
Was war Ihr erster Text, der im Westen erschien?
Das war ein Text beim Tagesspiegel, eine kleine Rezension. Ich hatte den Redakteur und späteren Feuilleton-Chef Bernhard Schulz bei einer Pressekonferenz kennengelernt. Nicht nur wir waren neugierig auf den Westen, der Westen war auch ein bisschen neugierig auf den Osten.
Gab es Momente, wo unterschiedliche Vorstellungen aufeinandertrafen und Verständigung nötig wurde?
Sehr viele. Das eine ist ja: Wird eine journalistische Recherche professionell zu Ende gebracht. Das andere ist: Gelingt es, dieses Stück in der Medienlandschaft unterzubringen, dass es gedruckt und honoriert wird? Hier brauchte es handwerkliche Grundlagen, dort brauchte es anfangs alles: Telefonnummern, Vernetzung, Strategie. Ich habe sehr oft selbstbewusst nachgefragt und bekam Antworten. Und es gab auch viel Ermutigung im persönlichen Gespräch.
Wie haben Sie in den 90er-Jahren die Debatte um Kunst aus der DDR wahrgenommen?
Es gibt für mich Kunst, die in der DDR entstanden ist. Aber es gibt keine DDR-Kunst, die man wie eine Art TÜV-Plakette auf die Rückseite der Bilderrahmen kleben darf. Viele Werke spiegeln den Ort und die Zeit, in der sie entstanden, sind aber nicht zwangsweise in der DDR zu verorten. Nehmen wir als Beispiel Karl-Heinz Adler. Das ist so eine starke Position! Seine Kunst gehört in eine bestimmte Zeit und in eine bestimmte Region und sie hat einen biografischen Impetus. Und gut. Unterschiede, die diese Klimazonen Ost und West in Deutschland nun einmal hatten, sind normal, weil die Historie eine andere ist und Menschen andere Geschichten hinter sich haben. Mehr muss ich dazu nicht sagen.
Haben Sie irgendeine Form von Stigmatisierung erlebt im Sinne von: So eine junge ostdeutsche Journalistin, der trauen wir das nicht zu, die brauchen wir hier nicht oder die nimmt uns vielleicht auch was weg?
Nein, ich habe mich von den Kollegen in München oder in Hamburg nicht heruntergesetzt gefühlt. Alfred Nemeczek war viele Jahre Textchef der Kunstzeitschrift art. Der schrieb mir einmal zu seiner redigierten Version: „Ich hoffe, Sie können mit der hiermit zaghaft und respektvoll und artig überreichten Textversion leben. Melden Sie sich bitte, wenn Ihnen etwas total gegen den Strich geht!“ Das war voller Wertschätzung und mit großem Respekt. Oder: Bei der Zeit gab es traditionell eine Redaktionskonferenz. An einem ovalen Tisch saßen die Redakteure, dort wurden auch neue Autoren vorgestellt. Für diese kleine Konferenz haben die mich eingeflogen! Das war unglaublich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das heute noch so praktiziert wird. So viel „Autorenpflege“ ist längst Geschichte.
Bis 1992 haben Sie offenbar sehr gute Texte geschrieben, denn in diesem Jahr wurden Sie mit dem Carl-Einstein-Preis der Kunststiftung Baden-Württemberg ausgezeichnet. Wie wichtig war diese Anerkennung?
Ich hatte von diesem Preis nie gehört und mich natürlich noch mehr darüber gewundert, weil ich ja aus westlicher Perspektive erst zwei Jahre geschrieben hatte. Ich bekam eine Urkunde, eine Preisskulptur und am Ende des Abends sagte man mir, sie werden mir das Preisgeld überweisen. 15.000 Mark. Für mich war das damals mehr als Honorare für ein Jahr.
Was haben Sie mit dem Geld gemacht?
Ich habe mir meinen ersten richtigen Computer und einen Drucker gekauft und kam mir wohlausgestattet vor für alles, was kommen würde. Und ich habe mir ein Ticket nach New York geleistet. Ich war noch nie dort, und ich wollte eine Story über den Galeristen Judy Lybke und die erste Dependance seiner Galerie Eigen + Art in New York schreiben.
Hat der Preis es Ihnen leichter gemacht, sich als Journalistin zu etablieren?
Ich glaube, die Möglichkeit, für Die Zeit zu schreiben, für die Süddeutsche und die FAZ und eben auch für die großen bunten Journale wie Cosmopolitan und Marie Claire, hatte anfangs schon damit zu tun. Preisträgerin hin oder her: Ohne gute Arbeit zu liefern, ruft dich keiner an. Dank dieser Aufträge bin ich auf Themen getroffen und konnte über Fragen nachdenken, die mir in der Kunstwelt in dieser Form gar nicht begegnet sind. Einmal war ich zum Beispiel für zehn Tage in einem Haus der Stille in der Diözese Magdeburg. Das hatte eine große reinigende Kraft.
Parallel entwickelten Sie eine eigene künstlerische Praxis. Wie kam es dazu?
Ich habe zehn Jahre an Handschrift-Projekten gearbeitet und diese auch ausgestellt. Wobei diese Projekte nicht zu verwechseln sind mit Kalligrafie. Es ist eine Methode des Von-Hand-Schreibens auf dem Weg zur Beantwortung einer Frage. Dazu kam, dass das Thema Schlaf mich zunehmend interessiert hat. In der Charité habe ich zum Beispiel eine Studie im Schlaflabor gemacht, die auf handschriftlichen Mitschriften basierte.
Kunst, die im Schlaflabor entstand
Wie kann ich mir das vorstellen?
Anhand der Protokolle wollte ich herausfinden, ob sich das subjektive Schlafempfinden mit den objektiv erhobenen Daten deckt. Ich habe die Menschen direkt nach dem Aufwachen dazu befragt. Wenn ich im Dunklen schreibe, während die Probanden aufwachen, dann sind sie eher bei sich selbst und in ihrer Welt. Ich dokumentierte ihre Worte mit meiner Handschrift wie auf zwei Spuren: einmal das Inhaltliche und einmal das Akustische. Wenn sie in ihrem Erzählen einen zeitlichen Sprung nach hinten machten, habe ich den Füller gewechselt, bin auf dem Blatt nach links hinten gewandert oder habe rückwärts geschrieben. Die Studie heißt „Avison“. Später sind diese Blätter gereist. Sie waren im Kunstmuseum Syker Vorwerk in Niedersachsen, in Cork in Irland und in der NYU von New York im Deutschen Haus. Es gibt einen Sammler in Berlin, der das Herz dieser Serie später angekauft hat.
Sie waren beruflich viel unterwegs. Schauen wir uns einige Station an, und Sie verraten, was Sie da gemacht haben: Schweiz 1994.
Recherchen für Reportagen.
Japan 1999.
Arbeitsaufenthalt auf Einladung einer Kunst-Foundation in Tokio. Ich habe dort mit dem Maler Christian Rothmann auch am Buch „Federkern“ gearbeitet.
Libyen 2002.
Das war eine Reise mit drei Künstlerinnen durch die libysche Sahara. Wir sind mit zwei Autos gefahren und haben anschließend über die Erfahrungen dieser Wochen eine Ausstellung in der Konrad-Adenauer-Stiftung gemacht. Mich interessierte vor allem die garamantische Handschrift, diese blauen Inschriften auf Felsen.
USA 2004.
Experiment für ein Gesamtkunstwerk an der Cooper Union, zusammengebracht von Birgit Ramsauer mit dem Titel „Spinet“. Wir waren eine internationale Künstlergruppe. Es entstand ein abendfüllendes Programm, ein Konzert für ein Spinet.
Mir ist aufgefallen, dass Zeit in vielen Ihrer Texte und Bücher eine Rolle spielt, oft als formales Element. Wann kam das Thema Schlaf in Ihr Leben, das ja auch eine Zeiteinheit darstellt?
Interessiert hat mich das Thema schon seit 1996. Zunächst als Autorin, später auch als Dozentin. Das Interesse dafür ist in mir wie ein kleines Pflänzchen langsam immer größer geworden. Inzwischen habe ich die notwendigen Zertifizierungen gemacht. Ich bin jetzt schon viele Jahre in der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. Und 2011 haben Sandra Zimmermann und ich die Schlafakademie Berlin gegründet. Zu meinem 50. Geburtstag habe ich mich noch einmal tief und streng befragt: Kann ich den Bruch zulassen, den zweiten Beruf ernst zu nehmen und noch einmal etwas ganz Neues aufzubauen? 2011 war meine letzte Ausstellung und ein Jahr später haben wir die ersten Aufträge für die Schlafakademie Berlin bekommen. So, wie es jetzt ist, ist es gut.
Hat der Mut, mit 50 Jahren beruflich ganz neu zu starten, etwas mit der Erfahrung aus der Umbruchzeit nach der Maueröffnung zu tun?
Ja, das könnte sein.
Warum haben Sie auch noch Programmieren gelernt?
Programmieren ist eine wunderbare Form zu schreiben. Für mich war das damals, als wir die Schlafakademie gegründet haben, sehr wichtig, um ein sicheres Gehalt zu bekommen. Ich arbeite bis heute einige Stunden jede Woche in einer IT-Firma. Soweit ich mich erinnere, war ich auch im Abitur nicht schlecht in Mathe und Physik. Hätte ich die Volontariats-Prüfung nicht bestanden, hätte ich Physik studiert.
Wo ist die Kunst in Ihrem Alltag heute noch präsent?
Bei Künstlerfreunden, bei Ausstellungen. In Berlin, Potsdam, Kassel, Dresden. Und in den Zeichnungen meiner fünf Enkel. Wilde Gebilde. Wunderschön.
Interview: Sarah Alberti
Biografisches
Thea Herold, geboren 1960 im Landkreis Meißen, hat als freie Kulturjournalistin, Autorin und Dozentin gearbeitet.
Heute ist sie Geschäftsführerin der Deutschen Stiftung Schlaf. 2011 gründete sie das Experten-Netzwerk Schlafakademie Berlin mit und widmet sich der präventiven Schlafaufklärung. Sie findet und sucht immer wieder künstlerische Schreibformate rund um das Thema Schlaf.
Gemeinsam mit Prof. Ingo Fietze vom Schlaflabor der Charité veröffentlichte sie 2006 das Sachbuch „Der Schlafquotient“ (Verlag Hoffmann und Campe).
2018 erschien ihre Streitschrift für die Pause „Du hast Zeit“.