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Gendern, Rassismus, Putin und 200 Milchkühe: Juli Zehs neuer Briefroman

Zusammen mit Simon Urban schreibt die Bestseller-Autorin einen Dialog zwischen Biobäuerin Ost und Topjournalist West - mit fast allen aktuellen Themen.

Von Karin Großmann
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Juli Zeh und Simon Urban lernten sich am Literaturinstitut in Leipzig kennen. Er war Student, sie Gastprofessorin. Jetzt schrieben sie zusammen einen Roman.
Juli Zeh und Simon Urban lernten sich am Literaturinstitut in Leipzig kennen. Er war Student, sie Gastprofessorin. Jetzt schrieben sie zusammen einen Roman. © Peter von Felbert

Sie wollten sich schon immer mal lange über die Meinungen anderer Leute ärgern? Können Sie haben. Sie wollen Ihre Vorurteile über Gendersprache, Medienmacht und kulturelle Ausgrenzung bestätigt sehen? Dann sind Sie hier richtig. Wer Juli Zeh bestellt, bekommt Juli Zeh: streitbar, politisch zupackend, gelegentlich nervend mit erhobenem Zeigefinger, und diesmal sogar im Doppelpack.

Das neue Werk „Zwischen Welten“ verfasste sie mit ihrem Kollegen Simon Urban. Er schrieb mehrere Romane, darunter ein ironisches Gedankenspiel um das Weiterleben der DDR, arbeitete für Werbeagenturen und für die Wochenzeitung Die Zeit; ein Vorteil für das neue Buch. Hier geht es um das ganz ähnliche Blatt Der Bote. Es erscheint nach heftigen Turbulenzen neugestaltet als Bot*in. Auf dem Titelfoto ein Pool Schweineblut vor dem Landwirtschaftsministerium in Berlin und eine protestierende Bäuerin, die den Minister ins Gesicht schlägt – „bildgewordener Zeitgeist“.

Klugschnackern beim Klugschnacken zusehen

Bis der romangewordene Zeitgeist in dieser Szene kulminiert, dauert es. Sie brauchen Geduld, um zwei Klugschnackern beim Klugschnacken zuzusehen. Sie ist die Bäuerin vom Titelfoto: Theresa Kallis, 43, ostdeutsch, temperamentvoll, verheiratet, zwei Kinder, Vorstand von Kuh & Co, einer vom Vater übernommenen Milchviehanlage in der Nähe vom literaturbekannten Dorf Unterleuten. Er ist leitender Journalist beim Boten in Hamburg: Stefan Jordan, 46, westdeutsch, Single, kinderlos, aufstiegsbewusst.

Hochtrabend tönt er: „Meine Lebensaufgabe besteht darin, einer neuen Epoche in die Schuhe zu helfen.“ Sie schimpft: „Ich brauche kein neues Leben. Ich will nur, dass man mir das alte nicht kaputtmacht.“ Sollten Sie sich fragen, wie das zusammenpasst: Es passt, weil beide bürgerliche Sozialisierung und Germanistikstudium gemeinsam haben. Mit diesem erzählerischen Kniff ist eine ähnliche Flughöhe gegeben.

Spannende Gesprächen über strukturellen Rassismus

Zwanzig Jahre nach der Studenten-WG treffen sich Theresa und Stefan zufällig wieder und missverstehen einander sofort. Sie schicken sich längliche E-Mails und pointierte Nachrichten per WhatsApp oder Telegram. Das sei ein ziemlicher Komödienstoff, meint Theresa. Falls Sie beim Lesen befreit lachen können, sind Sie zu beneiden. Während er von superspannenden Gesprächen über strukturellen Rassismus schwärmt und zu einer Neo-Rauch-Vernissage fährt, steht sie um drei Uhr auf und melkt 200 Kühe.

Das Wort Melker komme ihm so zeitgemäß vor wie Laternenanzünder oder Raubritter, sagt er. Außerdem seien Kühe schädlich fürs Klima.Sie nennt ihn einen dämlichen Kulturfuzzi und seine Probleme pipifax. „Mich erschreckt deine Zweifelsfreiheit.“ Er beschwert sich über ihre gnadenlose Kratzbürstigkeit. „Du bist doch nicht ganz dicht.“

Muss Journalismus immer neutral und objektiv sein?

Als die Bäuerin dem Journalisten angesichts der Ukrainekämpfe Kriegsbegeisterung vorwirft – „ihr stürzt euch doch euphorisch in den medialen Feldzug“ –, meint er, der Grad ihrer Verblendung sei pathologisch. Nach dem Austausch von Beleidigungen setzen sie das Gespräch fort. Das muss man erst mal hinkriegen, nicht wahr? Vertrauen statt Verachtung dürfte hilfreich sein in Bauernhöfen und Redaktionen.

Das Pingpong der Argumente dauert zehn Monate. Stefan verliert fast immer. Dabei wirft er drängende Fragen seines Jobs auf: Muss Journalismus immer neutral und objektiv sein, soll er jeder Meinung Raum geben, darf er Politik machen, indem er bestimmte Forderungen vorantreibt? Leider textet der Topjournalist vom Boten überraschend spaßfrei. Man kann nur hoffen, dass seine Artikel nicht auch so phrasenhaft klingen. „Es ist doch ein Geschenk, wenn man weiß, was richtig ist“, schreibt er allen Ernstes. Leichtes Spiel für die Bäuerin.

Theresa hat einiges abbekommen von Sarkasmus, Rigorosität und Spitzfindigkeit der Autorin Juli Zeh, auch von deren Zorn. Hier wird leidenschaftlich geschildert, was in der Landwirtschaft schiefläuft. Sollten Sie Mitglied im Bauernverband sein, werden Sie Dankschreiben schicken. Doch auch ohne Hof kann man nachfühlen, warum Verzweiflung in Wut umschlägt und schließlich in tätliche Angriffe. Miteinander bereden die beiden so gut wie alle aktuellen Debattenthemen und sämtliche Konflikte, die man sich denken kann zwischen Mann und Frau, Stadt und Land, Ost und West, zwischen konservativem Beharrungsvermögen und umtriebigem Veränderungswillen.

Allerdings verlaufen die Konfliktlinien kreuz und quer mittendurch. Das macht das Ganze interessant. Es passt zur Gegenwartsgesellschaft, in der die Koordinaten zwischen Links und Rechts längst nicht mehr stimmen. Gemeinsamkeit findet sich in Gesinnungsblasen. Außerhalb wird jedes Problem zur Grundsatzfrage aufgebürstet und lässt sich kaum noch diskutieren, ohne sofort zu polarisieren. Darum geht es in diesem Buch. Deshalb werden Sie es lesen. Und Sie nicht.

Der Selbstmord des Nachbarbauern

Wer durchhält, wird mit wirklich dramatischen Szenen belohnt. In der Redaktion des Boten entwickelt sich ein Machtkampf zwischen jungen Aktivisten und erfahrenen Journalisten. Der Chefredakteur wird in den sozialen Medien mit Morddrohungen überzogen nach einem misslungenen Witz, seine Frau an der Uni ausgegrenzt, seine Tochter in der Schule so gemobbt, dass sie fast in den Tod springt. Auf dem Bauernhof verschlechtert sich die ohnehin schlechte Lage durch Schweinepest, Scheunenbrand und Krach mit dem Ehemann, ein Nachbarbauer nimmt sich das Leben.

Die Konflikte eskalieren. Für einen Augenblick sieht es aus, als könnten sich Theresa und Stefan in eine leidenschaftliche gemeinsame Beziehung retten. Darauf würden Sie keinen Pfifferling wetten? Gewonnen. Als fein literarisches Stück über eine Internetliebschaft empfiehlt sich Daniel Glattauers E-Mail-Roman „Gut gegen Nordwind“ ohnehin mehr.

  • Juli Zeh, Simon Urban: Zwischen Welten. Luchterhand- Verlag, 443 Seiten, 24 Euro