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Kunstszene Ost, Teil 17: Dieter Goltzsche sagt: "Ich hatte Glück, verschiedenes Glück"

Im großen SZ-Interviewprojekt „Kunstszene Ost“ sprechen wir mit Künstlern und Kunstvermittlern über die Umbrüche in ihrem Leben. Der Maler und Illustrator Dieter Goltzsche erzählt vom Steineschleifen für Otto Dix, von Reisen nach Italien und vom langen Weg zur Zusammenarbeit mit Verlagen.

Von Sarah Alberti
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Dieter Goltzsche
Dieter Goltzsche © Thomas Kretschel

Herr Goltzsche, Sie haben in der DDR fast 50 Bücher und Umschläge illustriert. Wie kam es dazu?

Ich hatte immer Freude an der Literatur und dachte, dass ich meine Wirklichkeitszeichnungen in diese Bücher bringen kann. Noch heute mache ich ja unterwegs gern Skizzen. Ich habe mich immer wieder bei verschiedenen Verlagen vorgestellt. Es dauerte 18 Jahre, ehe es geklappt hat. Es war unerhört beschissen.

Warum wollten die Verlage nicht mit Ihnen arbeiten?

Es sollte jedem gefallen. Es hieß: „Was Hübsches, machen Sie mal was Hübsches für uns!“ Zuletzt konnte ich mir beim Verlag der Nation und bei Der Morgen aussuchen, was ich machen will. Da habe ich schöne Bücher gemacht, von Novalis und Jean Paul! Dass es irgendwann geklappt hat, war eine Glückssache. Ich hatte Glück, verschiedenes Glück. Dann durfte ich mal einen Umschlag machen. Und dann bekam ich das erste Buch von Sarah Kirsch: „Zaubersprüche“.

Wann kam Ihnen die Idee, das Zeichnen zum Beruf zu machen?

Ich habe schon als Kind gezeichnet und im Schloss Pillnitz Kunst wahrgenommen. Da hingen die Reste der Gemäldesammlung, die nach dem Krieg nicht in die Sowjetunion gebracht worden waren. Ich habe dort viel gelernt.

Von 1952 bis 1957 haben Sie Freie Grafik und Druckgrafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden studiert. Es heißt, Sie hätten Otto Dix noch persönlich kennengelernt?

Ja! Dix war inzwischen im Westen mit der Diktatur der Abstrakten konfrontiert und hatten keinen Erfolg mehr. Er kam regelmäßig in den Osten und druckte in der Hochschule. Wir Studenten mussten die Steine für seine Farblithografien schleifen. Es war für uns sehr spannend, das Entstehen der Farbgrafiken mitzuerleben.

Wie war das politische Klima an der Hochschule in den 50er-Jahren?

Man bemerkte, wie die Bewertung der Dozenten immer von der höchsten Parteiseite kontrolliert wurde. Bei der III. Deutschen Kunstausstellung wurde das ganz deutlich. Das war eine so entsetzliche, blöde Ausstellung, wo auch viele der guten Dresdner Leute nicht mehr dabei waren. Ich glaube, da war schon ein kasernierter Volkspolizist im Katalog abgebildet. Da war klar: In die Richtung soll es weitergehen!

Dieter Goltzsche (3.v.l.) als Bilderträger bei der Jurysitzung für die IV. Deutsche Kunstausstellung im Dresdner Albertinum 1958. Die Jury leitete Rudolf Bergander (vorn). In der 1. Reihe sitzend Bernhard Kretzschmar, Otto Niemeyer-Holstein und Hans Jüchs
Dieter Goltzsche (3.v.l.) als Bilderträger bei der Jurysitzung für die IV. Deutsche Kunstausstellung im Dresdner Albertinum 1958. Die Jury leitete Rudolf Bergander (vorn). In der 1. Reihe sitzend Bernhard Kretzschmar, Otto Niemeyer-Holstein und Hans Jüchs © Foto: Walter Zorn, SLUB/Deutsche

Für Ihre Diplomarbeit haben Sie Lithografien zum Thema „Ballett“ gemacht, die mit „sehr gut“ bewertet wurden.

Weil ich gern Bewegungszeichnungen machte, schlug ich Ballett vor, was akzeptiert wurde. Ich konnte in der ehemaligen Tanzschule von Mary Wigman an der Bautzener Straße Studien machen und den Proben im Operettentheater in Leuben beiwohnen. Der erste freie Auftrag nach dem Studium hieß dann „Sport“. Ich habe Kanuten gezeichnet, ging ins Schwimmbad, zeichnete Federballspieler und Schlittschuhläufer, Tennis sowie Pferderennen. Aber meine Zeichnungen wurden verurteilt.

Warum?

Sportarten wie Tennis waren zu privat! Und Pferderennen, um Gottes willen, das war ja merkantil! Das wurde kritisiert. Ein Mann beim Verband hat mir einen Mangel an Naturstudium vorgeworfen. Ein Schwein, das selber nicht zeichnen konnte.

Dieter Goltzsche: "Möwen im Wind", 1959, Kreidelithografie,
Dieter Goltzsche: "Möwen im Wind", 1959, Kreidelithografie, © Repro: Ute Krause, VG Bild-Kunst

1958 wurden Sie dennoch Meisterschüler an der Deutschen Akademie der Künste in Berlin. Wie haben Sie die Stadt damals erlebt?

Ich bin erst einmal verhaftet worden.

Warum das?

Ich wollte vom Bahnhof Friedrichstraße noch eine Station bis zum Brandenburger Tor fahren. Obwohl ich schon mehrfach in Berlin gewesen war, unterlag ich dem Irrtum, in den Zug zu steigen, wo der nächste Halt „Lehrter Bahnhof“, also im Westen war. Dort wurde ich mit dem schweren Koffer voller Wäsche rausgeholt. Ich musste in den Keller, wo die Polizei saß und wurde eine Nacht festgehalten. Am nächsten Tag haben sie offenbar bei der Dresdner Polizei angerufen. Dann durfte ich gehen.

Wie ging es an der Akademie künstlerisch weiter?

Ich stellte mir „Berlin“ zur Aufgabe, habe zu dieser Zeit viele Möwen-Blätter und Häuser gezeichnet. Nach nur acht Monaten flog ich wieder aus der Akademie. Das ZK der SED hatte die Akademie beschuldigt, zu bürgerlich zu sein. Vorläufig wurden gar keine Meisterschüler mehr genommen und dann im übernächsten Jahr doch wieder. Das war ein Wechsel zwischen hartem und weichem politischem Kurs.

Und dann standen Sie in Berlin auf der Straße?

Ich hatte keine Aufenthaltsgenehmigung und keine Wohnung mehr und eine Scheißangst vor der Polizei. Dann habe ich in Köpenick eine Remise gefunden. Die war ganz primitiv. Ich leitete einen kleinen Zeichenzirkel und machte das, was mir gelehrt wurde, also Modellzeichnen. Es kamen immer auch Leute, die einen beobachteten. Aber es waren auch sehr nette Leute dabei. Kurz war auch die Cornelia Schleime bei mir im Kurs.

Haben Sie sie ermutigt, Kunst zu studieren?

Ich habe niemanden ermutigt. Wenn mich einer fragte, ob er nicht freier Künstler sein sollte, sagte ich: „Ich kann das niemandem raten!“

Woher nahmen Sie die Kraft und das Vertrauen, dass es schon klappen wird mit Ihnen und der Kunst?

Die Niederlagen waren bitter. Aber ich dachte: Ich kann doch zeichnen! Kann denn heute in Deutschland noch einer zeichnen? An Einbildung mangelte es nicht.

Sie wussten, das, was Sie machen, machen Sie richtig gut?

Ja. Ja, ja! Das ist überhaupt das Prinzip, dass es Identität sein muss. Das ist das einzige Ding überhaupt in der Kunst. Es muss Identität sein! Man muss es selbst glauben!

Dieter Goltzsche 1975 in seinem Atelier. Aus der Serie "Künstlerporträts" von Christian Borchert
Dieter Goltzsche 1975 in seinem Atelier. Aus der Serie "Künstlerporträts" von Christian Borchert © Foto: Christian Borchert, SLUB/F

Ein Porträt des Komponisten Schostakowitsch

Wie kam es dazu, dass Sie 1977 Dmitri Schostakowitsch porträtierten?

Das war ein Auftrag des Ministeriums für Kultur. Für dieses Porträt war ich sehr dankbar. Das ist auch sehr gut geworden. Die wollten das als Repräsentationsgeschenke. Eines ist auch an Schostakowitsch übergeben worden. Und er hat gesagt: „Eines stimmt nicht: Ich rauche nicht mehr!“

1978 folgte die offizielle Anerkennung, Sie bekamen den Käthe-Kollwitz-Preis.

Welch Ironie, oder? Einst flog ich aus der Akademie und bekomme dann von derselben diesen Preis. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass irgendwo eine Achtung für meine Arbeit da war.

Schon seit 1977 hatten Sie einen temporären Lehrauftrag für Grafik an der Hochschule Berlin-Weißensee, 1980 wurden Sie Dozent. Hing das mit dem Preis zusammen?

Dass ich im Herbst 1978 genommen wurde, hing auch mit der Biermann-Ausbürgerung 1976 zusammen. Man wollte keine neuen Märtyrer erzeugen. Es war für mich die soziale Rettung, denn wie ich damals gelebt habe, das hätte wohl kaum jemand gemacht! Ich bezog 1978 die erste bürgerliche Wohnung.

Dieter Goltzsche: "Dresdner Zwinger Rückbezug auf Dresden", 1976, Aquarell über Algrafie
Dieter Goltzsche: "Dresdner Zwinger Rückbezug auf Dresden", 1976, Aquarell über Algrafie © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Haben Sie damals auch Zeichnungen verkauft?

Wir waren auf Märkten am 1. Mai oder solchen Feiertagen und verkauften unsere Grafik für einen kleinen Preis, 15 Mark oder so. Es gab in der DDR eine verhältnismäßig große Gemeinde an Sammlern. Für die Leute war es Ausdruck einer gewissen Individualität. Ich denke, das hing auch damit zusammen, dass es einen Geldüberhang gab. Die Leute konnten nicht reisen, es gab keine Luxusgüter. Und wenig Geld für eine Grafik tat nicht weh. Mit der Wende war das sofort vorbei.

In den 70er-Jahren wurden Ihre Zeichnungen im Ausland ausgestellt, in London, Stockholm und Helsinki. Durften Sie zu diesen Ausstellungen reisen?

Nein, nein. Von manchen wusste ich auch gar nicht.

1981 waren Sie in der Toskana. Wie hat das geklappt?

Meine langjährige Freundin Christine Wolter, die zu den jungen Lektoren des Aufbau-Verlags gehörte, heiratete einen Italiener. Sie zog zu ihm nach Mailand und lud mich ein. Zur Tarnung kam die Einladung von einem Maler, Ernesto Treccani. Ein guter Maler aus der Gruppe „Realismo“! Ich gab meinen Antrag beim Verband ab und bekam ein Telegramm: „Ihrer Reise konnte nicht zugestimmt werden.“ Daraufhin habe ich an Willi Sitte geschrieben. Ich wusste, dass Treccani im nachfolgenden Jahr eine Ausstellung in der Alten Nationalgalerie haben sollte. Er hat mir sofort geantwortet: Du wirst fahren. Wir wollen doch unsere Verbindung – er meinte seine Verbindung – mit Italien nicht gefährden!

Konnten Sie Italienisch?

Nein. Das war ein Ding. Ich habe wenig gegessen und mir neben Florenz Bologna, Ferrara, Siena und Ravenna angeschaut.

Haben Sie überlegt zu bleiben?

Niemals. Auch nicht, als ich 1956 zu meinem Vater in den Westen fuhr. Ich dachte, ich würde im Westen mit meinen Zeichnungen keine Miete bezahlen können.

Dieter Goltzsche 1983 in seinem Atelier. Aus der Serie "Künstlerporträts" von Christian Borchert
Dieter Goltzsche 1983 in seinem Atelier. Aus der Serie "Künstlerporträts" von Christian Borchert © Foto: Christian Borchert, SLUB/F

Die DDR brauchte keine Rentner

Dann durften Sie 1988 noch einmal nach Italien. Nach Südtirol, Venedig und Verona.

Ich war nach einem dramatischen Autounfall schwerbeschädigt und durfte fahren.

Auch Ihr Sohn war inzwischen geboren. War das eine Art Versicherung, dass Sie zurückkommen werden?

Ich glaube, ausschlaggebend war der Rentnerstatus. Die DDR brauchte keine Rentner, die konnten wegbleiben.

Für das Café Constance in Berlin haben Sie 1988 zwei Wandarbeiten gemacht. Gibt es die noch?

Das Café befand sich in der Frankfurter Allee 149. Die eine Arbeit war eine reine Dekoration an der Garderobe. Die andere befand sich zwischen zwei Türen im ersten Stock zwischen Küche und Toiletten. Ein Mosaik im französischen Stil. Das war ganz wunderbar. In den 1990er-Jahren wurde es mit Glasfasertapete überklebt. Ich möchte, dass das freigelegt wird! Das habe ich der Akademie gemeldet, aber es ist dort untergegangen! Das möchten Sie bitte fixieren!

Das fixieren wir gern! Sie waren seit der VI. Kunstausstellung bis 1989 bei allen großen Kunstausstellungen der DDR im Albertinum vertreten. Wie lief die Auswahl ab?

Alle vier bis fünf Jahre fanden Bezirkskunstausstellungen statt. Aus diesen wurden von einer Jury Werke für die großen DDR-Kunstausstellungen in Dresden ausgewählt. Diese Auswahl aus allen Bezirken wurde dann nochmals juriert. Ich habe bei der letzten Beteiligung ein Porträt des französischen Komponisten Erik Satie eingereicht. Das wurde sogar von den Kunstsammlungen Chemnitz angekauft. Andere hatten allerdings meterlange Triptycha zu hängen. Und ich diese kleine Grafik.

1989 haben Sie noch den Kunstpreis der DDR bekommen.

Das war eine typische Niedergangserscheinung. Viele haben diesen Preis bekommen.

Mussten Sie sich nach 1989 neu auf Ihre Stelle in Weißensee bewerben?

Ich gehörte zu denen, die bleiben durften. 1992 setzte sich der Kunsthistoriker Wieland Schmied, der einer Kommission zur Beurteilung der Hochschulsituation angehörte, dafür ein, dass ich die Professur bekam.

Und wie ging es mit dem Kunstmarkt?

Das war natürlich bescheiden. Das war schwierig. Die Galerien, die wir hier hatten, gingen ein. Und die wenigen Sammler fuhren mit ihrem Geld erst einmal nach Italien. In der Galerie Oevermann in Frankfurt am Main fand noch 1990 meine erste Einzelausstellung in der BRD statt. In der Galerie Beethovenstraße in Düsseldorf habe ich vielleicht drei-, viermal ausgestellt. Und ich durfte immer noch einen Kollegen mitbringen. Das war sehr schön.

1994 lief im Deutschen Historischen Museum die Ausstellung „Auftrag: Kunst. Bildende Künstler in der DDR zwischen Ästhetik und Politik 1949–1990“. Warum haben Sie die Teilnahme verweigert?

Aufgrund der Bezeichnung „DDR-Kunst“. Ich wollte nicht in diese Schublade und diese Nachbarschaft. Ich hatte Sorge, dass wir künftig nur noch solche Scheißausstellungen bespielen würden, bei denen es um soziologische Fragen geht!

2003 waren Sie dann bei „Kunst in der DDR“, einer Retrospektive der Nationalgalerie vertreten.

Hier war der Ansatz ein anderer. Es ging um kunstgeschichtliche Herkünfte und Entwicklungen. Sehr fundiert, mit treffender Bildauswahl. Eugen Blume ist ein guter Mann. Der hat schon in der DDR zu Joseph Beuys gearbeitet. Es gab 1981 eine Beuys-Ausstellung in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin.

Waren Sie da?

Ich bekam die Einladung schriftlich. Ich ging zu Walter Womacka, dem Rektor in Weißensee, und sagte: „Ich habe eine Einladung für die Beuys-Ausstellung, und ich möchte Ihnen sagen, dass ich hingehe!“ Ich habe nicht gefragt, ob ich darf. Er wurde glühend rot und antwortete: „Ich kann es Ihnen nicht genehmigen, aber es kann interessant sein.“ Womacka war da und ließ sich mit Beuys fotografieren. Bei der Veranstaltung fühlte man sich wie auf einem West-Floß im Osten. Es wurde unentwegt eingeschenkt. Die Bonzen waren da, viele Künstler, auch Max Uhlig. Und Beuys stand auf einer Filzscheibe mit einer großen Uhr ohne Zifferblatt, mit Hut und einem Salbenfleck im Gesicht. Unheimlich.

Wie ist die Zusammenarbeit mit den Verlagen nach 1990 weitergegangen?

Es war dann aus. Die Verlage wurden abgewickelt. Das illustrierte Buch, wie wir das traditionell kannten, ist heute selten im Westen. Es gibt Editionen und Künstlerbücher. Einen weiteren Erfolg hatte ich dann im Westen im Jahr 2008 noch beim Verlag Steidl, der für Sarah Kirschs „Sommerhütchen“ meine Zeichnungen druckte.

Biografisches

Dieter Goltzsche, geboren 1934 in Dresden, studierte dort an der Hochschule für Bildende Künste bei Hans Theo Richter und Max Schwimmer, der ihn 1958/59 als Meisterschüler an der Berliner Akademie aufnahm. Ab 1960 lebte und arbeitete er in Berlin. Ab 1980 war er an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee zunächst als Dozent für Grafik und von 1992 bis 2000 als Professor für Malerei und Grafik tätig. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. 1990 wurde er zum Mitglied der Akademie der Künste in Berlin (Ost) und 1993 der Akademie der Künste in Berlin (West), Sektion Bildende Kunst, berufen.