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Lessing-Preis für Wilfried Schulz: "Theater gehört allen"

Für seine Arbeit am Staatsschauspiel Dresden erhielt Wilfried Schulz 2021 den Lessing-Preis des Freistaats Sachsen. Am Donnerstag gibt es dazu in Kamenz eine nachgeholte Veranstaltung. Im Interview spricht Schulz über die politische Aufgabe von Theater.

Von Johanna Lemke
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Wilfried Schulz, war 2009 bis 2016 Intendant des Dresdner Staatsschauspiels. Foto: Michael Lübke
Wilfried Schulz, war 2009 bis 2016 Intendant des Dresdner Staatsschauspiels. Foto: Michael Lübke © Michael Lübke

Herr Schulz, Sie wurden mit dem Lessing-Preis für Ihre Arbeit am Dresdner Staatsschauspiel ausgezeichnet, die 2016 endete. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

In Dresden prägte unsere Arbeit das Gefühl, einen gesellschaftlichen Auftrag zu haben. Die politischen Widersprüche traten deutlich zutage, Pegida fand ja quasi auf dem Platz vor unserem Haus statt. Man kam gar nicht umhin, sich als Theater dazu zu verhalten. Ich habe dadurch gelernt, dass ästhetische Diskussionen wichtig sind, dass aber der Kern die Frage ist, wofür ein Theater in der Gesellschaft gebraucht wird. Mit welchen Emotionen, mit welchen Haltungen geht es auf die Stadt zu? In Dresden wussten wir immer genau, was wir tun und warum – ich fand das toll.

Haben Sie in Düsseldorf von den Dresdner Erfahrungen profitiert?

Zunächst konnten wir spielerischer an die Arbeit herangehen und ein bisschen verschwenderischer mit den eigenen Gefühlen und Plänen sein. Man muss hier nicht alles so auf den Prüfstand stellen. Sogar die Situation, dass wir kurz nach meinem Beginn erst einmal eine Grundsanierung des Schauspielhauses stemmen musten, hat uns zeitweise beflügelt. Doch dann sind Dinge passiert, die wir nicht mehr in der Hand hatten.

Welche waren das?

Erst einmal natürlich Corona. Die Künstler an unserem Theater haben in der Zeit stark darüber nachgedacht, wofür man sie eigentlich braucht und was ihre gesellschaftliche Aufgabe ist, eine starke Selbstreflexion setzte ein. Ich sehe das an vielen Theatern in Deutschland, an denen ebenfalls über Diskriminierung, Diversität und Machtmissbrauch gesprochen wird – auch, weil durch die Schließungen ein Raum dafür offen wurde.

Sie deuten folgenden Vorfall an: Vor einem Jahr erhob der Schauspieler Ron Iyamu Vorwürfe gegen Ihr Theater. Er berichtete, rassistisch beleidigt worden zu sein und sprach von strukturellem Rassismus an Ihrem Haus. Seitdem beschäftigen Sie sich intensiv mit Diversität an Ihrem Theater. An welchem Punkt der Auseinandersetzung befinden Sie sich jetzt?

Wir haben uns auch vorher schon viel mit dem Thema auseinandergesetzt. Ich denke inzwischen: Vielleicht fallen solche Vorfälle gerade dort auf, wo viel Fokus auf dem Thema liegt. Ich glaube nicht, dass unser Haus ein spezifisches Problem hat – es existiert ein breites gesellschaftliches Thema. Bei uns ist nichts passiert, was nicht irgendwo anders auch passiert, aber es hat einen Impuls gegeben, dass wir uns damit noch einmal mehr beschäftigt haben. Die ganze Mitarbeiterschaft hat Anti-Rassismus-Workshops gemacht, jetzt stellen wir uns die Frage, wie wir arbeiten wollen. Das ist eine spannende und lustvolle Aufgabe.

Diskriminierung und Machtmissbrauch gibt es nicht nur an Ihrem Haus, sondern an vielen großen Kulturinstitutionen. Sehen Sie sich auch als Vorreiter darin, Strukturen kritisch zu überprüfen?

Durchaus. Und da sind wir bei Lessing und dem Geist der Aufklärung: Es geht mir um das Bewusstsein, dass die Gesellschaft voranschreitet. Wir als Subjekte treiben die Gesellschaft mit voran. Diese Haltung kann man derzeit gut gebrauchen, denn ich bin überzeugt davon, dass wir die Fragen der Diversität, der Nachhaltigkeit und der Achtsamkeit aufnehmen müssen. Das gebiert große Konflikte, klar. Aber wir wollen uns damit intensiv beschäftigen.

Welche Rolle können Theater in dieser Zeit spielen, wenn die Weltordnung Kopf steht?

Im Lessing’schen Sinne muss man sagen: Wir als Theater sind nicht klüger als andere. Genauso wie auch Journalisten nicht klüger sind als andere. Wir eröffnen Räume, damit sich Menschen auseinandersetzen können. Gerade in diesen beiden existenziellen Krisen, in denen wir stecken – Corona und der Krieg mitten in Europa –, suchen die Menschen in der Kunst und Kultur Gegenwelten. Das soll nicht wie Eskapismus klingen, aber Theater ist eben nicht die Tagesschau. Das heißt, dass wir jetzt zum Beispiel eine Komödie von Goldoni produzieren werden, obwohl es Krieg gibt. Gleichzeitig bieten wir Räume an, um mit diesen Themen umzugehen.

Welche sind das?

Das fängt an damit, dass wir unser großes weißes Theaterhaus die ganze Nacht mit den ukrainischen Farben anleuchten, es geht weiter mit einer täglichen Spendensammlung, nach jeder Vorstellung. Wir planen ein Bürgerdinner für ukrainische Menschen und ihre Gastgeber und morgen treffe ich ein ukrainisches Künstlerteam, das bei uns inszenieren wird. Die Bürgerbühne arbeitet an einer Inszenierung mit ukrainischen und deutschen Bürgerinnen und Bürgern, die gemeinsam die Odyssee erzählen.

Spannend, denn die meisten dieser Aktionen finden nicht auf der Bühne statt, erst recht nicht in Form einer Inszenierung. Das erinnert sehr an die Arbeit des Dresdner Staatsschauspiels unter Ihrer Intendanz, für die Sie jetzt mit dem Lessing-Preis ausgezeichnet werden. Was würden Sie sagen ist Kern Ihres Theaterverständnisses?

Theater gehört allen – und niemandem. Es sollte für die gesamte Gesellschaft einen Gebrauchswert haben und dafür sorgen, dass Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Haltungen aufeinandertreffen und einander aushalten. Wir haben ein sehr großes, helles Foyer im Schauspielhaus in Düsseldorf, und dieses öffnen wir jetzt: Täglich ab 14 Uhr gibt es kein Programm, sondern Tee, Wasser, Zeitungen und WLAN. Es kommen Schülergruppen und alte Menschen, die Zeitung lesen. Mit dieser Geste der Öffnung wollen wir zeigen: Wir sind das Gegenteil von einem Elfenbeinturm. Wir öffnen uns, weil es uns Spaß macht – aber auch, weil es unsere verdammte Verpflichtung ist, für die Menschen da zu sein.

In Corona-Zeiten stand die Kultur auf dem Prüfstand, teilweise wurde ihre Existenzberechtigung hinterfragt: Die Theater waren geschlossen, als die Gastronomie schon munter öffnen durfte. Was können die Theater tun, um sich ihre Selbstverständlichkeit zurückzuerobern?

Dass die Gesellschaft offene Räume wie eben Theater braucht, ist nicht durch Corona entstanden, aber es ist dadurch deutlich geworden, hoffentlich wird es auch der Kulturpolitik etwas klarer. Es wird eine Arbeit sein, dass Begegnung wieder selbstverständlich wird. Das heißt auch, dass wir andere Communitys einladen als die, die bisher ins Theater kommen. Doch grundsätzlich ist das gesellschaftliche Bewusstsein gestiegen, wie wichtig Theater sind, um Themen zu reflektieren. Corona hat das deutlich gezeigt, und der Krieg tut es jetzt erneut. Leider.

Das Gespräch führte Johanna Lemke.

Am Donnerstag, den 28. April, 19.30 Uhr, stellen sich Wilfried Schulz und Jana Zajcek, Trägerin des Förderpreises, im Kamenzer Stadttheater vor. Karten gibt es zum Preis von 3 Euro.