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"Man darf die DDR-Zeit nicht ausradieren"

Der Hamburger Autor Michael Göring bekennt seine Dresden-Liebe in einem Roman. Ein Interview über West und Ost, alte und neue Mauern.

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Ein Teil der Stadtgeschichte: Das DDR-Wandbild "Der Weg der roten Fahne" am Dresdner Kulturpalast wurde vor einigen Jahren restauriert.
Ein Teil der Stadtgeschichte: Das DDR-Wandbild "Der Weg der roten Fahne" am Dresdner Kulturpalast wurde vor einigen Jahren restauriert. © dpa

Verwerfungen der deutschen Geschichte stellt Michael Göring in seinen Romanen an Einzelschicksalen dar. Sein jüngstes Buch spielt in Dresden zwischen 1975 und 1989 und zeigt die DDR aus der Sicht eines Westbesuchers. Die Hauptfigur hat manches mit dem Verfasser gemeinsam. Der gebürtige Westfale arbeitet in vielen Gremien und Vorständen großer deutschen Stiftungen und leitet selbst die Zeit-Stiftung in Hamburg.

Herr Göring, als westdeutscher Autor schreiben Sie einen Roman über die DDR mit viel Sympathie für die Ostdeutschen – wie konnte das passieren?
Den letzten Anstoß gab ein Erlebnis am Tag der deutschen Einheit in Dresden 2016. Als Chef der Zeit-Stiftung war ich eingeladen zum Festgottesdienst in der Frauenkirche. Und ich werde nie vergessen, wie wir danach durch einen Kordon geleitet wurden, vorbei an hasserfüllten, brüllenden Menschen, offenbar Pegida-Anhänger. Sie machten all das nieder, was sich in den letzten Jahren positiv entwickelt hat. Das habe ich nicht verstanden, und es passte auch nicht zu meinem Dresden-Bild. Da habe ich meine alten Tagebücher herausgeholt.

Was für ein Dresden-Bild haben Sie?
Wie Fabian, der Held meines Romans, war ich seit 1975 oft im Osten und vor allem in Dresden. Ich habe erlebt, was die Menschen hier geschaffen und bewahrt haben. Ich habe für diese Stadt immer eine besondere Liebe empfunden. Das hat auch mit Musik zu tun. Mich hat der Dirigent Karl Richter geprägt, ein ehemaliger Kruzianer. Er verließ die DDR 1951 und wurde in München Professor und ein bedeutender Chorleiter. Ich durfte auch an seinen Schallplattenaufnahmen mitwirken, zum Beispiel an der Matthäus-Passion mit Peter Schreier, das war ein so angenehmer Mensch. Ich habe viel von Rudolf Mauersberger gesungen, „Wie liegt die Stadt so wüst“, seine Trauermotette für Dresden. Mein Tanzlehrer war Sascha Carus, ein Nachfahre des Arztes und Malers Carl Gustav Carus. Die Kunst und die Menschen öffneten mir den Zugang zur Stadt. Ich wollte wissen, was es bedeutet, in einer kulturell so verwurzelten Stadt zu leben.

Fabian wird in der Dresdner Familie mit offenen Armen empfangen, obwohl er kein Verwandter ist. Haben Sie es so erlebt?
Ja, das Buch hat viel mit mir zu tun. Allerdings habe ich die Erfahrungen aus mehreren Familien zusammengefasst und die Figuren verändert, damit sie nicht erkennbar werden. Meine Freunde sind sehr opernnah, sehr musiknah. Hätte ich andere Kreise kennengelernt, wäre das Buch vielleicht anders geworden. Ich weiß, dass es kein „Turm“ ist. So differenziert, wie Uwe Tellkamp über seine Familie schreiben kann, ist es für einen Beobachter von außen gar nicht möglich. Ich kann nur meinen Eindruck von den Dingen wiedergeben. Ich wollte nicht ein Buch schreiben über die fürchterliche DDR, sondern über das, was sie auch einem Westmenschen bieten konnte. Es ist nicht einfach so dahingeschrieben, wenn ich Fabian durch den Großen Garten laufen lasse und er feststellt: Hier geht es mir besser als zu Hause.

Er fühlt sich in Dresden „wach, klar und offen für Neues“, schreiben Sie. Woher kommt das?
Zunächst aus der familiären Situation, in der er sich aufgehoben fühlt. Er erlebt einen liebevollen Vater, wie er es zu Hause nicht kannte. Er erlebt Geborgenheit und einen großen Zusammenhalt. Die Menschen unterstützen einander. Sie tun sich zusammen, um eine Datsche zu bauen. Beim Mittagstisch sprechen sie offen über Politik und können darauf vertrauen, dass es an diesem Tisch bleibt.

Fabian schwärmt von einer Behaglichkeit, die manche Zeithistoriker als Notgemeinschaft beschreiben, als Mief.
Es ist eine zentrale Stelle im Roman, wenn eine Frau sagt: Den familiären Zusammenhalt brauchen wir, das können wir, wir können Familie – aber für das Land ist dieser Rückzug nicht gut.

Haben Sie sich geschämt, wenn Sie wie Fabian im Roman getragene Kleidungsstücke aus dem Westen mitbrachten?
Ich habe mich ein bisschen seltsam gefühlt. Aber ich weiß, dass meine Eltern darauf achteten, dass die Sachen kaum getragen und sehr sauber waren. Aber es war damals so Usus, dass man Kaffee und Schokolade in den Osten schickte oder zwei, drei Pakete Waschpulver im Kofferraum hatte, wenn man rüberfuhr.

Sie schildern, wie sich der Sohn der Dresdner Familie durch den Westbesuch bestärkt fühlt in seiner Sehnsucht nach Freiheit. Er unternimmt einen Fluchtversuch und landet im Gefängnis. Fabian fühlt sich mitschuldig. Teilen Sie diese Erfahrung?
Ich hatte einen Freund, der mit 17 durch die Elbe schwimmend in den Westen wollte – und scheiterte. Ihm ist der Roman gewidmet. Ich hatte das Glück, im Ausland studieren zu dürfen, reisen zu dürfen. Und es kam mir schon seltsam vor, wenn ich sah, dass meine Freunde in Dresden meine Ansichtskarten aufgehoben hatten und noch Monate später wissen wollten, was ich etwa in New York erlebt hatte. Einer sagte damals: 2028 bin ich 65, dann kann ich dich auch mal besuchen. Das tat weh.

Wie hat sich der Kontakt zu Ihren Dresdner Freunden mit dem Wendeherbst 1989 verändert?
Das war verrückt! Wir hätten uns nun öfter sehen können und haben uns seltener gesehen als vorher. Sie reisten viel, nach Italien, nach Frankreich oder in jene Regionen Deutschlands, in die sie bis dahin nicht konnten. Es war nun nicht mehr wichtig, dass Westbesuch kam und Nachrichten mitbrachte aus dem anderen Teil der Welt. Aber wir haben uns bis heute nicht aus den Augen verloren.

Mit einem VW-Käfer fährt Fabian 1975 erstmals nach Dresden. Hier mit dem Autor Michael Göring, 64, Leiter der Zeit-Stiftung.
Mit einem VW-Käfer fährt Fabian 1975 erstmals nach Dresden. Hier mit dem Autor Michael Göring, 64, Leiter der Zeit-Stiftung.

Wie haben Sie die Veränderungen in Dresden erlebt?
Eine Szene meines Buches spielt im „Fresswürfel“ am Postplatz. Die Gaststätte hätte ich stehen lassen. Ich weiß nicht, ob der Nachfolgebau so viel schöner ist, ob die Umbauten auf der Prager Straße gelungen sind. Aber ich war sehr froh, dass der Kulturpalast nicht abgerissen wurde. Denn Architektur ist auch Teil der Geschichte, Teil der Identifikation vieler Bürgerinnen und Bürger. Damit sollte man sehr behutsam umgehen. Diese Zeit darf man nicht ausradieren.

Ihr Roman bietet eine differenzierte Sicht auf die DDR, eine positivere als lange Zeit üblich. Damit greifen Sie einen gesamtgesellschaftlichen Trend auf, oder?
Ich wünschte mir, dass wir viel deutlicher anerkennen, was in 40 Jahren DDR entstanden ist. Bevor ich den Roman schrieb, habe ich zum Beispiel „Die Aula“ von Hermann Kant gelesen. Was für ein mutiges Werk hat er 1965 herausgebracht, das ist doch toll! Und welche großartige Musik entstand in der DDR. Mein Buch beginnt mit einer Oper von Friedrich Schenker. Er ist weder in Ost noch in West übermäßig bekannt. Aber es ist mir wichtiger, auf solche Leute hinzuweisen, statt noch mal Schuld anzulasten: Ihr habt im Westen alles falsch gemacht und wir im Osten haben uns nur mit Ablehnung wehren können. Ich glaube, dass wir etwas näher zusammenrücken und mehr von unseren ganz persönlichen Geschichten erfahren müssten.

Am dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, es sei eine neue Mauer aus Frust und Hass gewachsen, aus Sprachlosigkeit und Entfremdung. Was meinen Sie, wer hat diese Mauer gebaut?

Beide Seiten. Es gab sicher eine gewisse Überheblichkeit im Westen. Überheblichkeit finde ich immer fürchterlich. Aber es hat auch eine Meckerbereitschaft im Osten gegeben. Es war eine Mischung von beidem. Vielleicht bin ich zu sehr Idealist, aber ich denke, dass man auch diese Mauer einreißen kann.

Das Gespräch führte Karin Großmann.

Michael Göring: Dresden. Roman einer Familie. Osburg Verlag, 301 Seiten, 24 Euro.